4 - Schwer wie Blei

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Ein leises, verräterisches Zischen direkt neben seinem Ohr ließ Arthur auffahren. Als er sich umdrehte, sah er mit giftgrünem Entsetzen den schmalen, erdbraun gefleckten Kopf einer Boa constrictor neben ihm in der Luft schweben. Mit wellenartigen Zickzackbewegungen glitt das Tier hinter einer der riesigen Wurzeln des schattenspendenden Kapokbaums hervor und näherte sich ihm mit bedrohlicher Langsamkeit. Als würde sie nur den richtigen Moment abwarten, um sich mit einem Mal auf ihn zu stürzen.

Die kleinen, schwefelgelb glänzenden Augen hatte sie fest auf Arthur gerichtet und nahm direkten Kurs auf ihn. Der lange Körper der Würgeschlange wollte gar kein Ende nehmen, Meter über Meter schlängelte sie sich hinter der Wurzel hervor und schien sich von nichts ablenken zu lassen.

„Oh Scheiße, geh weg", quietschte Arthur und stolperte rückwärts gegen Bianca, die gerade dabei war, ihre Feldflasche im Rucksack zu verstauen.

„Hey, was ...?", fauchte sie.

„Das Vieh ist gigantisch!", rief Arthur und deutete auf das Wirbeltier. „Sehen die echt so aus?"

Statt zu antworten zerrte Bianca Arthur unsanft am Arm mit sich.

„Unsere Rucksäcke ...", rief Arthur noch, aber sie schien ihn nicht zu hören. Beide fegten sie über den stolperfallenübersähten Boden, Arthur knickte beinahe um, wurde aber von seiner Partnerin gnadenlos weitergezogen. Irgendwann verlangsamte Bianca ihren Lauf und lehnte sich keuchend gegen einen Felsen. Das Rennen durch die stehende, feuchtwarme Luft hatte Arthur ebenfalls zugesetzt. Kleine weiße Sternchen tanzten vor seinen Augen und ein watteweiches Gefühl, das seinen ganzen Körper einhüllte, verkündete einen nahenden Kreislaufzusammenbruch. Er ließ sich am Fuß des Felsens auf den Boden sinken.

Wenn er es nicht besser gewusst hätte, wäre er in Angst darüber, sich eine Vergiftung zugezogen zu haben. Der aufkeimenden Panik ausgesetzt, dass er aus Versehen etwas gegessen oder angefasst haben könnte, das diese starke körperliche Reaktion hervorrief. Doch er wusste es besser. Er hatte nichts zu sich genommen und auch nichts berührt, das auch nur annähernd giftig für ihn sein könnte. Vielleicht beherrschte er sein Metier doch besser als Bianca ihres. Aber das war jetzt nicht von Belang, jetzt, wo er ins Reich der Bewusstlosigkeit abzudriften drohte.

„Hey, bleib hier", zischte Bianca im Befehlston und klatschte ihm leicht auf die Wange. Fast glaubte Arthur, ihre Iris würde gelblich schimmern. Wie die Augen der Boa. Vielleicht hatte sie ihn ja mit ihrem Blick vergiftet. Alles schien ihm im Moment möglich, denn er konnte es sich nicht erklären. Das hier war nicht bloß sein Kreislauf. Arthurs Augenlieder waren schwer wie Blei, er konnte nicht verhindern, dass sie einfach zuklappten.

„Mir ist richtig, richtig schlecht ...", hauchte Arthur und zwang sich, seine Augen wieder zu öffnen. Das Bild vor ihm begann sich zu verdoppeln, dann zu verschwimmen. Zwei Biancas ... oh je, ihm reichte auch eine davon ... Hatten zwei Biancas das doppelte Repertoire an Flüchen? Oder teilten sie sich ein Vokabular?

„Hey, du wirst mir nicht in Ohnmacht fallen. Hast du das gesehen? Hast du die Augen gesehen?", fragte sie außer Atem. Arthurs Augen blickten fahrig durch die Gegend. Bianca fasste sein Gesicht mit beiden Händen und zwang ihn, ihr in die himmlisch blauen Augen zu sehen.

„Was soll ich gesehen haben ...?", murmelte er benommen und versuchte das Engelsgesicht scharf zu stellen. Die goldgelben Sommersprossen, die sich von der Nase über beide Wangen ergossen, schienen einen wilden Reigen zu tanzen. Wie kleine Sterne am endlosen Himmel. Sie tanzten viel zu schnell, viel zu schnell. Wo war nochmal der Kleine Bär ...? Er konnte den Polarstern einfach nicht finden ... Erschöpft suchte Arthur nach einem Ankerpunkt und hielt sich schließlich an ihren strahlend blauen Augen fest.

„Die Augen der Schlange. Sie waren gelb wie Schwefel ... nein, nicht nur das ... sie haben förmlich geglüht. Arthur, das ist nicht normal!"

Die nahende Ohnmacht schien unter der Erschütterung dieser Aussage abzuebben. Gelb? So gelb wie Schwefel? Er drückte sich die Hände auf die Augen, genoß einen Augenblick der stillen Dunkelheit und blickte dann in das sorgenvolle Sommersprossengesicht. Diesmal war es auch nur eines.

„Du meinst ... das ist der Schwefeldiamant? Der Schwefeldiamant ist eine Schlange?", fragte er.

„Der Schwefeldiamant sind wir", korrigierte sie.

Operation Schwefeldiamant | Ideenzauber 2023Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt