Kapitel 𝟙-♕

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  Es war so weit. Die letzten Sonnenstrahlen küssten meine zarten Wangen, während ich gedankenverloren aus dem Fenster blickte. Heute war der Tag. Der Tag, an dem sich alles änderte.
Viel zu langsam zog ich mir meine lederbezogenen Stiefel über die kalten Füße. Ich wollte nicht, dass dieser Augenblick endete, dass mein bisheriges Leben endete. Mit meinen einundzwanzig Jahren wusste ich, dass ich Verantwortung übernehmen musste und der Situation nicht entfliehen konnte. Ich senkte meinen Blick auf die Schnürungen und das bereits abgefallene Leder der Schuhe.
  „Ein letzter Atemzug, Ophelia", redete ich mir selbst Mut zu.
Bewusst nahm ich die energiegeladene Luft wahr und sog sie so weit in meine Lungen ein. Ich wollte mich unbedingt in Zukunft noch an das Gefühl erinnern. An das Gefühl von warmen Sonnenstrahlen, die saftigen Wiesen und die frische Luft.
  „Jetzt oder nie, Ophelia!", sprach ich mir erneut den nötigen Mut zu. Sträubend dirigierte ich meine Füße in das Untergeschoss.
Am Ende der Treppe erwartete mich meine Familie. Ganz links stand meine Mutter, die ihr liebstes weißes Kleid trug, und neben ihr mein Vater, der mich mit einem stolzen, aber auch wehmütigen Blick anlächelte. Zuletzt blickte ich in kastanienbraune Augen, welche mich aufmerksam musterten. Amy, meine kleine Schwester, klammerte sich so dicht an meine Eltern, dass ich Angst hatte, sie würde jede Sekunde Reißaus nehmen.
   „Ophelia", durchbrach mein Vater die geladene Stimmung. Automatisch stellten sich meine Armhaare auf und ich drückte meine Wirbelsäule weiter durch.
   „Wir sind so stolz auf dich. Obwohl du das vielleicht noch nicht erkennst, es wird bestimmt eine aufregende Zeit...", mein Vater wurde von einem angsteinflößenden Klopfen unterbrochen.
Sie waren hier. Und sie nahmen mich mit. Weg. Weg von meiner Familie, weg von meiner Heimat und weg von meinem Zuhause. Es würde nichts nützen, mich gegen die „Einladung" zu wehren, ich würde sie ohnehin annehmen müssen. Mit einem tiefen Atemzug umarmte ich meine Familie und blinzelte dabei ein paar Tränen aus meinen müden Augen. Ich musste hier weg, sonst würde ich den Abschied nicht überstehen. Ich würde meine Mutter anflehen, bleiben zu dürfen, mich an meine kleine Schwester klammern und mich in die starken Arme meines Vaters stürzen. Auf dem Weg nach draußen schnappte ich mir mit einer flinken Bewegung mein Schwert und warf es mir über die Schulter. Die Halterung des Schwertes schnürte ich fest an meinen Körper, so, als ob sie das Einzige wäre, was mich zusammenhalten würde. Vor der Tür erwarteten mich zwei Männer mit drei Pferden, die bereits fertig gesattelt waren.
   „Ophelia Atkins, wir sind hier, um Sie in den Mitternachts-Wald zu begleiten", sprach der Größere von ihnen mit rauer Stimme.
Ich beachtete ihn nicht und wollte seinen Worten auch nicht folgen. Ohne ihn vollständig anzuhören, schwang ich mich auf ein Pferd und nahm die Zügel fest in beide Hände, bereit, die Reise anzutreten. Mit meinem Schicksal hatte ich mich bereits am Tag der Einigkeit abgefunden. Nachdem ein prunkvoller Sprecher lautstark verkündet hatte, dass ich in den Mitternachts-Wald verbannt – Entschuldigung – eingeladen wurde, wusste ich, dass ich meine Familie ein ganzes Jahr nicht wiedersehen würde. Während sie die Schneiderei am Laufen hielten, wurde ich in den Mitternachts-Wald verbannt. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie meine Mutter Amy und mir erzählte, dass dort Verbrecher verbannt wurden und nur die überlebten, die bereit waren zu töten. Es war ein Land ohne Liebe und Freude, mit einem gnadenlosen und unbarmherzigen König. Er war ganz anders als unser König. König Armes war immerzu hilfsbereit, besorgt und gütig. Dies war wahrscheinlich ein Grund für das Abkommen. Alle zehn Jahre wurden jeweils zwei Bewohner des jeweiligen Landes ausgewählt, die dann die Länder tauschten. Tristan und ich würden beim König und seinem grüblerischen Prinzen wohnen, während die Bewohner des Mitternachts-Waldes das Glück hatten, in der Frühlings-Lichtung zu hausen. Dieses Abkommen sollte die Kluft zwischen den getrennten Ländern überwinden. Pah, dass ich nicht lachte! Egal, wie sie sich anstrengen würden, wie viele Pakte sie für das gute Miteinander beschlossen würden, all das würde nichts daran ändern, dass die Bewohner des Mitternachts-Waldes alle unbarmherzige und gefährliche Personen waren. Sie würden niemals mit uns Frieden schließen können. Ich würde niemals mit ihnen Frieden schließen können.

Tears of fearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt