Kapitel 1

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Melek

Ayla: Melek, kannst du mir kurz die Dokumente des neuen Patienten durchleiten? Er hatte einen Verkehrsunfall und muss so schnell wie möglich notoperiert werden. Wir müssen die Unterlagen für die Akte fertigstellen, damit wir ihn bei uns aufnehmen können. Mila müsste es dir auf den PC geschickt haben.

Ayla die Chefin unserer Krankenstation kam in den Hauptraum und setzte sich neben mich. Sie sah gestresst aus und setzte ihre süße Brille auf, bevor sie ihren Laptop hochfuhr und ihre
E-Mails abcheckte. Ich war sowieso damit beschäftigt einige Patientenakten durchzugehen und leitete ihr die wichtigsten Daten weiter, die Mila mir von der Rezeption aus zugemailt hatte.

Sie war jedoch nicht die Einzige, die so gestresst war. Die ganze Nacht hatte ich kein Auge zubekommen und musste dann noch den Frühdienst übernehmen. Kurz gesagt, mein Schlafrhythmus ist am Arsch.

Ich bin seit einem Jahr eine ausgelernte Krankenschwester und habe zusätzlich noch mit dem Haushalt zu kämpfen. Mein Vater und ich sind auf uns allein gestellt und er macht es mir gerade nicht einfach. Er bemerkte nicht einmal, wie ich am Ende meiner Kräfte war. Selbst wenn ich abkratzen würde, würde es ihm nicht einmal die Bohne jucken.

Seitdem meine Mutter uns mit meinen 10 Jahren verlassen hatte, hat er sich zum schlimmeren entwickelt. Bevor sie verschwunden ist, hatten sie sich nur noch gestritten und sich gegenseitig für ihre Fehler fertiggemacht. 12 Jahre sind vergangen und sie hat sich nicht einmal gemeldet. Bis heute frage ich mich, wie es ihr geht und wo sie wohl lebt. Lebte sie noch? Hat sie jemand neues in ihrem Leben? Hat sie vielleicht weitere Kinder, von denen ich nichts weiß? Warum hat sie uns wirklich verlassen, was war der Grund? Trotz, dass sie mich verlassen hat, konnte ich sie nicht hassen. Ich war sauer und enttäuscht, aber sie ist meine Mutter und hat mich zu der Frau gemacht, die ich heute sein wollte. Sie war die liebevollste und verständnisvollste Mutter, sie hatte meine Kindheit irgendwie noch erträglich gemacht, bis sie weg war und mich mit meinem Vater allein ließ.

„Du bist so wie sie", sagte mein Vater immer wieder und verspottete mich dafür. Er hasste sie und hatte nie mehr nach ihr gefragt, seitdem sie weg war. Es war ihm egal wie ich mich entwickelt hatte und wie es mir ging. Er hasste meine Mutter und deswegen hasste er mich, weil ich ihr sehr ähnelte. Er machte mich für alles verantwortlich und gab mir die Schuld dafür, dass sie uns verlassen hatte. Ich hatte mich seit 12 Jahren damit abgefunden und abgeschlossen, weil es nichts mehr Neues für mich war. Tagsüber sah ich ihn kaum, da er immer sehr lange weg war. Fragt mich nicht, wo er sich aufhält, ich weiß es nicht. Wo er arbeitet, weiß ich auch nicht. Es gibt auch Tage, wo er gar nicht nach Hause kommt. Er rief nicht an und sagte mir auch nicht Bescheid. Für ihn war ich nur noch jemand, der ihm was zu essen kochte und den Haushalt schmiss. Wenigstens zahlte er das Haus und alle anderen Rechnungen. Bis jetzt hatte er mich auch nie nach Geld gefragt, obwohl ich immer diejenige war, die ihn fragte, ob er was brauchte. Es gab auch ein oder zwei Momente, wo ihm mal die Hand ausrutschte, aber dass nur wenn er betrunken, gestresst oder sauer war. Auch wenn er mich so behandelte, hatte ich immer noch großen Respekt. Würde ich gegen sein Willen handeln, hätte ich es bis hierher niemals geschafft. Ich wäre schon längst unter der Erde oder bei meinen Großeltern in der Türkei.

Ayla: Willst du nicht nach Hause? Du siehst so fertig aus, du brauchst Schlaf

Melek: Süß von dir, aber nein. Ich habe noch zwei Stunden und muss noch einzelne Akten durchgehen

Sie nickte verständlich und ließ mich meine Arbeit machen. Sie war die beste Chefin, aber wenn es um meine Arbeit ging, war ich immer mit Herz und Seele dabei. Die Arbeit war die beste Ablenkung und die beste Zuflucht für mich. Hier fühlte ich mich sicherer als zuhause bei meinem Vater. Überall war es sicherer ohne ihn.

Nach zwei Stunden war ich endlich fertig und verabschiedete mich von Ayla und ein paar anderen Kollegen. Ich zog mich um und fuhr mit dem Auto nach Hause.

Wie ich erwartet hatte, war mein Vater nicht zuhause. Ich kochte für uns, aß etwas und ging mich duschen.

Nach dem Duschen riefen mich meine besten Freunde Alev und Mira an. Alev arbeitete in der Zahnarztpraxis und fuhr gerade nach Hause, während Mira schon zuhause war und ihr Nudelsalat in sich stopfte. Mira studierte noch und hatte ein Nebenjob in einer Konditorei, sie arbeitete dort samstags und sonntags.  Beide waren so alt wie ich. Wir waren gemeinsam auf demselben Kindergarten, zusammen auf der Grundschule und dann auf der weiterführenden Schule, bis jeder seine Richtung gewählt hat. Bis jetzt waren wir immer unzertrennlich gewesen. Ihre Familien lieben mich so wie ihr eigenes Kind. Dank ihnen konnte ich doch ein wenig Liebe erfahren, die ich von meinen eigenen Eltern nie wirklich bekommen hatte. Meine ganze Familie lebte in der Türkei, da wollte ich nicht hin, obwohl ich mein Heimatland über alles liebe.

Alev: Dann hat die mich einfach ohne Grund angeschrien. Diese behinderte er. Das nächste Mal werde ich den Bohrer in ihr Zahnfleisch bohren. Wenn sie nicht so gewackelt hätte oder nicht an ihrem Handy gewesen wäre, wäre das nie passiert

Mira und ich lachten durchgehend, als sie von ihrem Erlebnis in der Praxis erzählte. Jeden Tag gab es irgendeine Story, die wir uns gegenseitig von der Arbeit oder von der Uni erzählten. Es wurde nie langweilig und so fühlte es sich auch nie an, als hätten sich unsere Wege getrennt. Wir haben Glück, dass wir alle noch in Rüsselsheim leben und wir uns zu jederzeit sehen konnten. Meistens trafen wir uns bei mir, weil ich eh so gut wie immer allein war und Alevs sowie Miras Geschwister uns nicht nerven konnten, wenn wir über persönliche Dinge sprachen. Ich liebte ihre Geschwister und ihre Eltern, keine Frage, dennoch gab es Themen, die nur wir wissen sollten.

Mira: Bei mir gab es heute nichts besonders, bis auf eine Prügelei zwischen den Jungs aus meiner Stufe. Die sind durchgedreht wie die Hühner

Melek: Immerhin ist bei euch was Interessantes passiert, ich konnte heute nicht mal zu meinen Patienten. Ich musste die scheiß Akten durchgehen, von allen auf meiner Station

Nach einiger Zeit legten wir auf und ich sah, wie mein Vater in die Einfahrt fuhr. Ich lief die Treppen runter und machte ihm die Tür auf.

Als ich ihn begrüßen wollte, drückte er mich einfach nur beiseite und lief direkt hoch auf sein Zimmer.

Ich schluckte schwer und ignorierte sein Verhalten, bis ich mich ins Wohnzimmer setzte und mir noch ein Netflix Film reinzog. Da ich so müde war, schlief ich ein. Als ich wach wurde, sah ich, dass mein Vater wieder weggefahren war. Ich machte mich bettfertig und ging wieder schlafen.

Am nächsten Tag war ich viel fitter. Ich konnte wieder zu meinen Patienten und machte Pause. Ich wusste nicht, dass dieser Tag voller Überraschungen steckte.

Irgendwann kam Ayla während der Pause zu mir gerannt und sagte, dass irgendein Typ, in einer Bar, in eine Schlägerei verwickelt gewesen war und dass er eine Platzwunde an der Stirn und eine an der Lippe hatte. Da sie und die anderen mit den anderen Patienten beschäftigt waren und keiner mehr da war, verzichtete ich auf den Rest meiner Pause und eilte in die Ambulanz.

Dort erwarteten mich drei Typen. Die drei diskutierten sehr heftig miteinander. Die zwei, die nicht verletzt waren, schrien den Verletzten an und sahen sehr sauer aus.

???: Junge bist du eigentlich behindert? Es hätte schlimmer enden können. Guck dich mal an, du siehst aus wie eine Mistgeburt

???: Wie oft haben wir dir gesagt, dass du dich nicht provozieren lassen sollst? Bruder du hast es zu weit getrieben! Was ist nur mit dir passiert?! Was ist in dich gefahren lan?! So bist du doch nicht man

???: Bin ich verletzt oder die man? WAS macht ihr eigentlich hier? Wieso seid ihr einfach aufgetaucht? Habe ich euch nicht gesagt, dass ihr mich in Ruhe lassen sollt? Auf solche Freunde scheiße ich! Ich habe euch beiden gar nichts mehr zu sagen. Verpisst euch einfach und hört auf mit dem Babysitting. Ich bin 23 und kein Kind mehr!! Ihr beide seid unten durch bei mir

Die drei diskutieren weiter, bis sie mich endlich bemerkten. Die zwei verstummten und der Verletzte blickte mir direkt in die Augen. So tief, dass er mit seinem Blick beinahe meine Seele zerfetzt hätte.

***

Das erste Kapitel ist da & ich hoffe, dass ich euch nicht enttäusche. Die ersten Kapitel sind immer etwas schwierig, bis ich reinkomme, aber das ist normal. Ich hoffe, dass ihr kommentiert und mir sagt, wie ihr das Kapitel findet. Habibis ich versuche mein Bestes, weil ich lange nicht mehr geschrieben habe 🩷

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