II

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Heftig zwickte sich Vespasian in den Arm, um sich zum Aufwachsen zu zwingen. Normalerweise hätte ihm der Schmerz Tränen in die Augen gejagt. Doch er fühlte nichts, weil sein Körper in dieser Welt nicht existierte. In diesem Moment begriff er, dass es für ihn kein Entrinnen gab. Es spielte keine Rolle, dass er diesen Albtraum nicht länger mit ansehen wollte. Irgendeine Gottheit oder eine magische Kraft zwang ihm diese Visionen auf und sie war noch lange nicht fertig.
Um sich für das nächste Traumbild zu wappnen, atmete Vespasian tief ein. Dann öffnete er die Augen und stutzte. Er stand am Anfang einer kleinen Gasse, die auf das Forum Romanum mündete. Am Ende des Gässchens entdeckte er die markante Gestalt der von Augustus beendeten Curia Iulia. In diesem Teil der Stadt war er noch nie gewesen, denn hier reihte sich eine Buchhandlung an die nächste. Unsicher schlängelte sich Vespasian an den vielen Menschen vorbei, die seinen Geist nicht sehen konnten. Kurz spielte er mit dem Gedanken, ob er versuchen sollte, einfach durch sie hindurch zu gehen. Aber die Vorstellung war ihm dermaßen zuwider, dass er beinahe ins Straucheln geriet.
Aus dem Nichts tauchte vor ihm eine junge Sklavin auf, die ihr helles Haar unter einem Umhang aus dunkler Wolle verbarg. Irgendetwas an ihr kam ihm bekannt vor. Als sie an ihm vorüberging, musterte er ihr Gesicht und erschrak. Das war Aurelia! Was hatte sie an diesem Ort in dieser Aufmachung zu suchen? Wie gebannt folgte er ihr und bemerkte gar nicht, wie ein junger Prätorianer nur wenige Schritte hinter ihnen herlief und die junge Frau nicht aus den Augen ließ.
Mit großen, glänzenden Augen musterte sie prüfend das Angebot der einzelnen Händler, bis sie schließlich an einem kleinen Stand innehielt, sich über die Schriftrollen beugte und die Titel überflog. Die Auswahl schien ihr zu gefallen. Schon wenige Augenblicke später stand der Händler neben ihr und verwickelte sie in ein Gespräch, in dem Aurelia sich als einfache Sklavin im Auftrag ihres Herren ausgab. Ob der Händler ihr Glauben schenkte oder einfach nur ein gutes Geschäft witterte, vermochte Vespasian nicht zu sagen. Doch der Mann half ihr liebenswürdig und nachdem sie mehr Bücher von ihm gekauft hatte, als Vespasian je in seinem gesamten Leben gelesen hatte, verstaute der Mann ihre Einkäufe in einer großen Holztruhe.
Unglücklich betrachtete Aurelia das schwere Gut und überlegte laut, wie sie diese nur nach Hause bringen sollte. Der Buchhändler hielt mitten in der Bewegung inne und musterte seine Kundin von Kopf bis Fuß. Dann rief er nach zwei Sklaven und trug ihnen auf, die Ware auszuliefern. Lächelnd überreichte sie dem Händler einen großen Geldbeutel, dann zeigte sie den Trägern den Weg zu ihrem Zuhause.
Zum ersten Mal in diesem Traum wirkte Aurelia wahrhaftig glücklich. Vespasians Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte so viel Geld ausgegeben, dass ihm ganz schwindlig wurde und er hoffte instinktiv, dass es nicht seines war. Denn sonst würde sie ein gewaltiges Problem mit ihrem Doppelgänger bekommen, sobald er davon erfuhr.
Unglücklicherweise trat der andere Vespasian gerade in dem Moment aus der Curia, in dem Aurelia mit ihrer Ware auf das Forum Romanum gelangte. Vermutlich hätte sein böser Zwilling sie gar nicht erkannt, wäre er nicht gerade in ein Gespräch mit Gaius verwickelt gewesen, der Aurelia entdeckte und mit einem wehmütigen Lächeln hinterherblickte.
Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend beobachtete Vespasian, wie sein Doppelgänger dem Blick des Princeps folgte und seine Frau erkannte. Hastig eilte der andere Vespasian ihr hinterher und hatte sie schon bald auf dem dicht gedrängten Forum eingeholt. Grob packte er sie am Arm und zog sie an sich.
„Was tust du hier?", zischte er ihr aufgebracht ins Ohr. Dann fiel sein Blick auf die Träger und sein Gesicht verlor jegliche Farbe.
„Wir haben keine Bibliothek", erwiderte Aurelia erschrocken. „Ich habe von meinem Geld Bücher gekauft, damit ich meine Zeit sinnvoll nutzen kann, wenn du nicht da bist."
Zweifelnd blickte der andere Vespasian sie an, dann fiel sein Blick auf etwas hinter ihr. Langsam trieben die Liktoren des Princeps die Menschen beiseite, um dessen Sänfte Platz zu machen. Behutsamer als zuvor zog der andere Vespasian seine Frau zur Seite und nickte Gaius zum Abschied zu. Sittsam und demütig wie eine Sklavin blickte Aurelia zu Boden und bemerkte nicht, wie sich der mächtigste Mann der Welt nach ihr verzehrte.
Die Szene löste sich vor ihm in Luft auf und im nächsten Augenblick stand er im Peristyl einer kleinen Stadtvilla. Vespasian kannte dieses Haus nicht, aber da Aurelia vollkommen ungeniert auf einer Decke im Schatten eines Baumes lag und in eine Schriftrolle vertieft war, nahm er an, dass es ihr gehören musste. Vermutlich hatte sein Doppelgänger es kurz vor oder nach der Hochzeit gekauft, um nicht länger mit Onkel Vespasius unter einem Dach leben zu müssen.
Neugierig blickte sich Vespasian um. Der Garten war schlicht und klein. In seiner Mitte stand eine alte Eiche, in deren Schatten Aurelia las. Das Gras war kurz und von einigen Blätter des Baumes bedeckt. Andere Pflanzen gab es nicht. Der Rasen ging direkt in den Laubengang über. Die Bodenmosaike zeigten ein schlichtes, geometrisches Muster, welches vor einigen Jahren in Mode gewesen war. Die Säulen waren aus günstigem Marmor. Zeitlos elegant, aber preiswerter. Das Innere des Hauses konnte Vespasian nicht entdecken, doch da die Wände nicht von Fresken geziert waren, musste es ebenfalls sehr schlicht und pragmatisch sein. Mit anderen Worten: Dies war ein Haus, das seinem sozialen Status als Senator zwar gerecht wurde, allerdings auch jedem deutlich vor Augen führte, dass der Besitzer keiner alten Adelsfamilie entstammte und gern sparsam lebte. Aber vor allem war es ein Zeugnis für den Fall der Gens Aurelia. Noch zum Zeitpunkt ihrer Geburt wäre es undenkbar gewesen, dass Aurelia eines Tages in einem solchen Haus hätte leben müssen. Sie wirkte vollkommen fehl am Platz.
So als hätte sie seine Gedanken gehört, legte Aurelia die Schriftrollen mit einem Seufzen beiseite, schloss die Augen und schlief ein. Selbst im Schlaf wirkte sie traurig. Lautlos setzte sich Vespasian neben sie auf die Decke und wachte über die Schlafende. Die Schatten wurden länger und wanderten mit dem Lauf der Sonne. In diesem Moment hatte er das Gefühl, als würde die Zeit in seinem Traum schneller vergehen.
Ein Schrei riss ihn aus seinen Gedanken. Sein ziemlich wütend dreinblickender Doppelgänger stürmte über den kleinen Rasen und war in wenigen Sekunden bei ihnen. Blinzelnd schlug Aurelia die Augen auf, da hatte der andere Vespasian sie auch schon hochgezerrt und schüttelte sie heftig.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?", fuhr ihr Ehemann sie an. Verständnislos blickte Aurelia zu ihm auf. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie ihm nicht antworten können, weil er sie so stark an ihren zarten Schultern rüttelte, dass ihre Zähne klirrten. Als seinem Doppelgänger aufging, dass sie ihm nicht antworten konnte, ließ er mit einem frustrierten Fauchen von ihr ab. Mühsam brachte sie hervor: „Ich habe im Garten gelesen und bin dann eingeschlafen."
Der andere Vespasian schüttelte nur ungeduldig den Kopf und deutete anklagend auf die Stelle, an der sie bis eben gelegen hatte. Aurelias Decke schimmerte blau im Nachmittagslicht.
„Willst du etwa aussehen wie eine gewöhnliche Bäuerin?", tobte sein böser Zwilling. In versöhnlicherem Ton fuhr er fort: „Du bist meine Frau und als solche musst du unserem Stand angemessen in der Öffentlichkeit auftreten. Deine Haut muss selbst im Sommer so weiß wie Schnee sein. Auf Cosa konnten wir leben, wie es uns gefällt. Aber das hier ist Rom. Hier gelten andere Regeln. Wenn ich dich noch einmal in der Sonne schlafend erwische, werde ich jeden Zugang zum Garten verschließen, bevor ich das Haus verlasse."
Aus großen Augen starrte Aurelia ihren Gemahl an und Vespasian hätte ihr gern geholfen. Doch er konnte sein Alter Ego verstehen. Ihre Wangen zeigten schon eine sanfte Röte und in diesem Traum war sie seine Ehefrau. Es war ebenso seine Pflicht auf sie zu achten, so wie sie ihm gehorchen musste. Die meisten Damen der römischen Oberschicht hatten einen sehr hellen Teint, weil sie fast den ganzen Tag im Haus verbrachten. Selbst die Frauen der unteren Schichten versuchten die Sonne zu meiden, insofern sie sich dies leisten konnte. Sogar Caenis' seidige Haut war so rein wie Milch, weil Antonia ihre Lieblingssklavin die meiste Zeit des Tages um sich hatte und sie gemeinsam das Sonnenlicht mieden. Aufmerksam musterte Vespasian seinen Doppelgänger von Kopf bis Fuß, dessen Haut zwar durch die Arbeiten auf Cosa an Farbe gewonnen hatte, aber mittlerweile schon wieder heller wurde.
Aurelias Erwiderung hörte er nicht mehr, da die unsichtbare Macht ihn aus der Szene riss. Doch das Gesicht seines Doppelgängers wurde dunkel vor Zorn.
Im nächsten Augenblick wurde alles schwarz um ihn und in Vespasian keimte die Hoffnung auf, dass die Gottheit inzwischen ausreichend Mitleid mit ihm hatte, um diesen verrückten Traum nun endlich zu beenden. Doch dann blickte er direkt in das gleißende, bleiche Licht des Vollmondes. Flüsternde Stimmen drangen an sein Ohr. Mit klopfendem Herzen schaute er sich in dem Zimmer um, welches er sofort als Caenis' kleine, gemütliche Schlafkammer wiedererkannte. Auf dem Bett schmiegte sich seine Geliebte vertraulich an seinen bösen Zwilling, der entspannt die Arme um ihren nackten Körper geschlungen hatte und den verführerischen Duft ihres dunklen Haars inhalierte.
„Ich hatte befürchtet, dass wir uns nach deiner Hochzeit seltener sehen werden, mein Liebster", säuselte Caenis und strich seinem Doppelgänger zärtlich über die Wange. „Aber seitdem ist keine Nacht vergangen, in der du nicht bei mir warst. So sehr ich mich freue, dass du dein Versprechen wahr gemacht hast, werde ich das Gefühl nicht los, dass du mich aus den falschen Gründen aufsuchst. Stimmt etwas nicht?"
Sein Alter Ego seufzte theatralisch und vergrub die Nase tiefer in ihrem Haar. Der Anblick schmerzte Vespasian. Eigentlich war es vollkommen lächerlich. Aber Caenis in den Armen eines anderen Mannes zu sehen - selbst wenn es sich dabei um seinen Doppelgänger handelte - setzte ihm sehr zu.
„Die Frau macht mich wahnsinnig", jammerte sein böser Zwilling. Kurz blitzte in ihren Augen ein triumphierender Ausdruck auf. Dann spitzte seine Geliebte aufmerksam die Ohren und verharrte in ihrer zärtlichen Position, um den anderen Vespasian nicht misstrauisch zu machen. Aber Vespasian war dieses kurze Aufblitzen nicht entgangen und er wurde das Gefühl nicht los, dass mehr als persönliches Interesse hinter ihrer Frage steckte.
„Sie kauft Bücher!", fuhr sein Alter Ego fort. „Eine ganze Bibliothek will sie in meinem Haus anlegen und anstelle mir dankbar zu sein, weil ich sie gewähren lasse, lässt sie keine Gelegenheit aus, um mich zu provozieren."
„Ist sie wieder im Garten eingeschlafen?", fragte Caenis belustigt. Ärgerlich über diese Unterbrechung runzelte sein Doppelgänger die Stirn, dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, das hat sie nicht gewagt", gab er widerwillig zu. Beschwerte sich aber zugleich weiter: „Aber als ich neulich nach Hause kam, war sie vollkommen unangemessen gekleidet. Kannst du dir das vorstellen, dass eine römische Adlige ihren Mann nach einer anstrengenden Senatssitzung mit offenen Haaren und in einer knielangen Tunika im Atrium begrüßt?"
Bei dieser Frage schnitt Caenis eine Grimasse. Zunächst dachte Vespasian, dass dieser Grobian durch seine Unachtsamkeit ihre Gefühle verletzt hatte. Sie würde niemals auf ihn warten können, weil er als Senator keine Freigelassene und erst recht keine Sklavin wie sie heiraten durfte. Aber dann durchschaute er sie. Ihre Gefühle waren nicht verletzt. Sie war von seinem Gejammer genervt und ertrug es nur, weil sie mehr Informationen über den Zustand seiner Ehe benötigte. Dahinter konnte nur eine Person stecken: seine wohlwollende Förderin und ihre geliebte Herrin Antonia. Doch warum hegte die große Dame dafür ein solches Interesse? Gewiss, sie hatte bei der Vermittlung der Ehe ihre Finger im Spiel gehabt. Aber das allein begründete nicht, weshalb sie ihre Sekretärin auf ihn ansetzte.
„Immerhin hat sie mir bis jetzt noch nicht gedroht die Rechtsgültigkeit unserer Ehe anzufechten", schloss sein Doppelgänger und jegliche Farbe wich aus Caenis' hübschem Gesicht. Mit gepresster Stimme fragte sie, was er damit meinte.
„Während unserer Hochzeitszeremonie hat sich Aurelia geweigert ihr Einverständnis zu geben. Meine Mutter hat die Floskel so laut gesagt, dass die Gäste dachten, sie kämen von der Braut selbst", erklärte der andere Vespasian, als müsste seiner Geliebten diese Tatsache bekannt sein, obwohl sie selbst nicht anwesend gewesen war. In ihrem hübschen Köpfchen begannen die Gedanken zu rasen. Vespasian erkannte dies an der kleinen Falte, die sich auf ihrer Stirn bildete und ihn überkam das drängende Bedürfnis sie aus den Armen seines bösen Zwillings zu winden und diese Stelle zu küssen, bis sie all ihre Sorgen vergaß. Plötzlich verzog sich ihr Mund zu einem kleinen, intriganten Lächeln, welches ihn erschaudern ließ. Verführerisch presste sie ihren Körper an seinen Doppelgänger und positionierte ihre Lippen an seinem Ohr.
„Dann musst du einen Weg finden sie an dich zu binden", raunte ihm Caenis mit tückisch funkelnden Augen zu. Sein Abklatsch grinste boshaft und zog sie lüstern auf seinen Schoß. Vespasian sagte sich immer wieder, dass dies nicht seine kluge, liebenswerte und lustige Geliebte war. Aber er verstand, was die Gottheit ihm mit dieser Szene zu sagen versuchte. Seine dunkelste Version brachte auch ihre schlimmste Seite zum Vorschein. Dankbar begrüßte er die Finsternis, die ihn davor bewahrte seine Gespielin mit diesem Dämon beim Liebesspiel zu beobachten.
Im nächsten Augenblick schaute er direkt in Aurelias meerblaue Augen, die einfach durch ihn hindurch sahen. Sie wirkte so real. Doch als er an sich hinabblickte, erkannte er, dass er noch immer nur ein Geist war. Reglos wie eine Statue starrte sie durch das Fenster ihres spärlich eingerichteten Zimmers auf die Ewige Stadt. Sie trug ein hübsches dunkelgrünes Gewand, das den zarten Teint ihrer Haut unterstrich. Ihr helles Haar war zu einer aufwendigen Frisur aufgesteckt und ihr Gesicht war zart geschminkt. Wieso hatte sie sich so hübsch gemacht wie für ein Festessen beim Princeps, wenn die Sonne noch hoch am Horizont stand? Sie war wirklich wunderschön. Doch etwas anderes als ihre Schönheit zog seine Aufmerksamkeit auf sich und ihm wurde das Herz schwer. Denn so traurig und einsam hatte er sie noch nie erlebt. Wenn er ganz ehrlich mit sich selbst war, dann war sie ihm schon wie die Schwester vorgekommen, die er als kleiner Junge verloren hatte, als er ihr das erste Mal begegnet war. Ihn hatte nur ihre Mitgift gereizt. Aber das dies ein schlechter Grund für eine Ehe war, hatte er spätestens in diesem Traum begriffen. Es schmerzte ihn, sie so leiden zu sehen und zu wissen, dass sein Klon die Ursache für ihre Pein war. Ihr Herz war für ihn ebenso wenig frei wie seines für sie. Wie sollte eine solche Ehe jemals glücklich werden können?
Ein Klopfen an der Tür ließ Aurelia herumfahren. Überrascht beobachtete Vespasian über ihre zarte Schulter, wie sie tief einatmete und sie eine würdevolle Haltung annahm, ehe sie die Erlaubnis zum Eintreten gab und sein Doppelgänger in ihr Zimmer schlüpfte. Der andere Vespasian musterte sie aufmerksam von Kopf bis Fuß, während sich auf seinem Gesicht ein anerkennendes Lächeln ausbreitete.
„Du siehst sehr schön aus, meine Liebe", entschlüpfte ihm und das Lob wirkte eher wie eine Beleidigung. Aurelia sah umwerfend aus, gewiss, aber auch vollkommen übertrieben. Freundlich fuhr ihr Gemahl fort: „Mir ist heute etwas in die Hände gefallen, dass mich an dich erinnert hat."
Langsam trat er auf sie zu und holte einen Gegenstand aus den Falten seiner Toga mit den breiten Streifen hervor, die seinen Rang als Senator betonte. Würdevoll kam ihm Aurelia entgegen und musterte neugierig die kleine Holzschatulle in seinen Händen. Sie war sehr schlicht und Vespasian wusste auf den ersten Blick, dass sein Doppelgänger das günstigste Modell gewählt hatte. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder ärgern sollte. Denn auf der einen Seite hasste er es Geld zu verschwenden. Aber dies war seine Frau, sollte er nicht wenigstens bei einem Geschenk für seine Gemahlin gewillt sein spendabel zu sein? Als er sich der Einrichtung ihres Zimmers bewusst wurde, war ihm klar, dass dies nicht der Fall war. Nicht einmal im Traum gab er unnötig viel Geld aus, wenn es eine Alternative gab.
Sanft forderte sein Doppelgänger Aurelia auf die Schatulle zu öffnen. Zögerlich strich sie über das Holz, dann holte sie tief Luft und hob behutsam den Deckel ab. Im Inneren des Kästchens befand sich eine Schriftrolle. Überrascht weiteten sich Aurelias Augen bei deren Anblick und ihr Mund verzog sich zu einem überwältigenden Lächeln. Sein böser Zwilling blinzelte bezaubert von der Schönheit ihres Anblickes. In diesem Augenblick hob sie den Kopf, ihre Blicke kreuzten sich und alles schien perfekt. Ihr ganzes Gesicht strahlte. Wie sie schöpfte Vespasian die Hoffnung, dass sich nun alles zum Guten wenden würde. Behutsam nahm sie die Rolle aus ihrem Kästchen und las das Schildchen, auf dem Autor und Titel vermerkt waren. Es handelte sich um das erste Odenbuch von Horaz. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihr Blick wurde leer, so als ob sie in eine andere Welt abtauchen würde.
„Du meintest, dass dir Horaz gefällt und dir nur noch seine Oden fehlen", sprudelte es aus seinem sichtlich überforderten Double heraus. „Als ich es heute zufällig gesehen habe, musste ich sofort an dich denken. Aber ich war mir unsicher, ob du es dir nicht mittlerweile schon selbst gekauft hast. Ich kann die Rolle sicherlich umtauschen."
„Sie ist perfekt", unterbrach Aurelia ihn bestimmt und umarmte ihn fest. Sanft legte sein Doppelgänger seine Arme um ihren zarten Körper und atmete ihren Geruch ein.
Als sie sich voneinander lösten, fragte Aurelia, ob sie gemeinsam einen Platz in ihrer Bibliothek suchen wollten. Der andere Vespasian nickte und nahm ihre Hand. Bevor sie aufbrachen, verstaute Aurelia das Schriftstück wieder in seiner Schachtel. Dann führte sie ihn lächelnd durch das Stadthaus zu einem winzigen, dunklen Raum. Auf das Innere war Vespasian nicht gefasst. Denn dies war mit Abstand die seltsamste Bibliothek, die er je gesehen hatte. Eine Sitzgelegenheit oder gar eine Möglichkeit zum Liegen gab es nicht. Das Licht, welches durch das kleine Fenster drang, war zum Lesen zu schlecht. Aber die Regale an den Wänden waren voller Schriftrollen. Wohin er auch blickte, an jeder Ecke standen Bücher von bekannten und vollkommen unbedeutenden Autoren, so als hätte sie alles gekauft, das ihr in die Finger geraten war. Zeitgleich schluckten Vespasian und sein Doppelgänger aufgrund des kleinen Vermögens, das Aurelia für dieses Zimmer ausgegeben hatte. Immerhin war es ihr Geld und nichts seins, das sie dafür verwendete.
Suchend blickte sich sein Klon in der kleinen Bibliothek um, doch er wirkte vollkommen überfordert. Wissend lächelte Aurelia, nahm ihm die Holzschatulle aus den Händen und stellte sie in eines der Regale. Kurz verharrten ihre Fingerspitzen auf dem Kästchen, dann wandte sie sich ab und lächelte seinen Doppelgänger glücklich an. Doch der blickte sich immer noch staunend in dem engen Raum um.
„Du kannst dir jederzeit etwas ausleihen. Dies ist auch dein Zuhause", bot sie an und obwohl sich Vespasian sicher war, dass sein Alter Ego ablehnen würde, nickte dieser nur stumm. Fragend streckte er seine Hand nach ihr aus, die Aurelia ohne zu zögern ergriff. Vielleicht war wirklich noch nicht alles verloren.
„Was gefällt dir so an Horaz?", wollte sein Doppelgänger interessiert wissen und sofort sprudelten die Worte aus ihr heraus. Mit einem Mal schien die Zeit in seinem Traum schneller zu vergehen. Etwas leichter ums Herz beobachtete Vespasian das Paar, das erst durch den Garten wandelte und schließlich gemeinsam zu Abend aß. Sie hatten kein rauschendes Fest mit vielen Gästen und exquisiten Speisen. Es war wieder so wie auf Cosa, als sie vor allem Freunde gewesen waren. Sie hatten einander und je länger er sie betrachtete, desto mehr fragte er sich, ob das nicht für eine erfolgreiche Ehe genügen konnte. Wie viel Zeit vergangen war, konnte er nicht sagen. Doch im nächsten Augenblick geleitete sein Doppelgänger Aurelia galant zu ihrem Zimmer. Die schmalen Gänge des alten Hauses wurden vom Öllampen erhellt. Aber es konnte sich nicht um den gleichen Tag handeln, denn Aurelias Kleid war selbst in diesem matten Licht dunkelblau, nicht dunkelgrün. Die größte Veränderung entdeckte Vespasian allerdings in ihrem Gesicht: Ihre Wangen waren rosig und weniger kantig und ihre wunderschönen Augen waren wieder voller Freude und Leben.
Als das Paar ihre Tür erreichte, raunte Aurelia gut gelaunt: „Danke für den schönen Nachmittag und Abend."
Sie wollte schon durch die Tür in ihr Zimmer zurück schlüpfen, als der andere Vespasian sie am Arm zurückhielt. Verunsichert blickte sie auf die große Hand auf ihrer zarten Haut.
„Der Abend muss noch nicht enden", raunte sein Doppelgänger und zog sie in einen leidenschaftlichen Kuss. Für einen Wimpernschlag war sie wie erfroren, dann schloss sie die Augen, legte ihm die Arme um den Hals und erwiderte sanft seinen drängenden Kuss. Ihre Sanftheit berührte sein Herz und auch sein Klon passte sich ihr sofort an. Seine Berührungen wurden zarter, so als wäre er sich bewusst geworden, dass er seine Ehefrau in seinen Armen hielt und dies kein gestohlener Augenblick mit seiner Geliebten war. Caenis war seine Leidenschaft. Ihre Liebe war heftig und intensiv. Hatte sein Doppelgänger wirklich gelernt Aurelia auf eine zartere, sanftere Weise zu lieben? Brachte er ihr endlich den nötigen Respekt entgegen, den sie von Anfang an von ihm verdient hatte?
„Lass mich dich lieben, Aurelia und du musst nie wieder einsam sein", wisperte der andere Vespasian und begann ihren Hals mit Küssen zu übersehen, während seine Hände gierig ihren Körper erkundeten. Eine Welle der Scham überkam Vespasian und er zwang sich nicht hinzusehen. Er hörte, wie sich die Tür hinter dem Paar schloss und dann wartete er.
Als er die Augen öffnete, befand er sich wieder in ihrer schmucklosen Schlafkammer und erhaschte einen Blick auf die schlafende Aurelia. Das Licht der ersten Sonnenstrahlen verlieh ihrem Haar einen warmen Goldton. Die Decke schütze sie vor der kühlen Morgenluft und so wagte Vespasian einen weiteren Blick auf das Bett zu riskieren. Obwohl es gerade so breit genug für zwei dicht beieinander liegende Körper gewesen wäre, fehlte von dem anderen Vespasian jede Spur.
Der Schrei eines Vogels ließ ihn zusammenzucken. Sofort huschten seine Augen zu ihrem Gesicht. Flatternd öffneten sich ihre Lider. Verschlafen tastete ihre Hand neben sich und griff ins Leere. Mit einem Schlag war sie hellwach. Ruckartig setzte sie sich auf und sah sich suchend in ihrem Zimmer um. Dann rief sie leise seinen Namen. Doch sie erhielt keine Antwort. Sein Doppelgänger war fort.

Aurelia ~ De somnis Vespasiani || Series Romana BonusgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt