Als er wieder klar sehen konnte, stand er am Fußende von Gaius' gigantischem Bett. Seine Schwestern saßen bei ihm und hielten seine Hände, von seiner Gemahlin und seiner Geliebten fehlte jede Spur. Sein Gesicht war noch immer verschwitzt, aber das Zittern seines Körpers hatte sich gelegt. Wenn Vespasian es nicht besser wissen würde, würde er denken, sein Freund würde nur schlafen und nicht ein Gift bekämpfen.
Wie lange Vespasian einfach nur dastand und die vier Julier betrachtete, konnte er nicht sagen. Doch irgendwann nahm Gaius all seine Kraft zusammen und öffnete blinzelnd die Augen. Vor Erleichterung brach seine jüngste Schwester Julia in Tränen aus. Verwirrt huschte Gaius' Blick über die Gesichter seiner Schwestern, dann öffnete er den Mund, doch brachte nur ein raues Krächzen zustande.
„Hier, trink etwas Saft, Bruder!", meinte Agrippina liebenswürdig und hielt ihm einen Becher an die Lippen. Behutsam nippte Gaius ein paar Mal an dem Getränk, dann gab er ihr mit einer ruckartigen Kopfbewegung zu verstehen, dass sie das stärkende Getränk nun entfernen sollte. Julia wischte sich mit der Hand übers Gesicht, aber immer neue Tränen rannen ihr aus den Augen.
Der durchdringende Blick des Princeps richtete sich auf seine Lieblingsschwester, die ihn warm anlächelte.
„Wo ist sie?", fragte er Drusilla mit rauer Stimme. Bevor die Gefragte auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte, begann Agrippina davon zu faseln, was für eine Erleichterung es sei, dass Gaius nun endlich aufgewacht war, die Verantwortliche endlich gefunden und gefangen genommen worden sei. Scharf blickte Gaius seine älteste Schwester an und hob matt die Hand, damit sie endlich aufhörte zu sprechen. Dann wandte er sich voller Ungeduld wieder Drusilla zu. Die drückte sanft seine Hand und erwiderte: „Sie wird in meinen Gemächern behandelt."
Sofort schüttelte Gaius die Hände seiner Schwestern ab, schlug die Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Vermutlich wäre er schon längst aus dem Zimmer gestürmt, wenn sich nicht alles um ihn drehen würde. Benebelt von der Reaktion seines vom Gift geschwächten Körpers verharrte der Princeps auf der Bettkante und starrte auf einen Punkt in den Wellen des Wandfreskos.
„Helft mir auf!", befahl Gaius frustriert und streckte fordernd seine Hände nach seinen Schwestern aus. Wütend baute sich die weinende Julia vor ihm auf, stemmte die Hände in die zierlichen Hüften und knurrte ihn an: „Leg dich sofort wieder hin! Du warst drei Monate lang mehr tot als lebendig! Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was für Sorgen wir uns um dich gemacht haben? Du gehst nirgendwo hin, solange dir das kein Arzt gestattet hat!"
Widerwillig sank Gaius zurück auf die Kissen und mit einem Mal verlief die Zeit um Vespasian wieder schneller. Immer neue Menschen betraten das Zimmer, die ersten waren Heiler und untersuchten den Princeps. Danach folgten angeführt von seinem Onkeln und Mitkonsul Claudius die Senatoren und seine Klienten, die sich von der Genesung ihres Anführers überzeugen wollten. Zum Schluss, als bereits die Sonne unterging, erschien Antonia und setzte sich zu ihrem erschöpften Enkel auf die Bettkante. Die Zeit verlangsamte sich wieder.
„War das mit Publius Afranius Potius wirklich notwendig?", wollte sie mit sanfter Stimme wissen und Gaius verdrehte die Augen.
„Er hat es geschworen, Großmutter", antwortete er und imitierte ihren Tonfall perfekt. „Die Götter nehmen einen solchen Schwur sehr ernst. Wenn er ihnen sein Leben im Austausch für meins bietet, dann muss er es ihnen auch geben."
Antonia seufzte leise und strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Mit einem Mal wirkte sie entsetzlich alt und müde. Auch für sie mussten die vergangenen Wochen schwer gewesen sein. Ein Teil von Vespasian erwartete, dass sie ihrem Enkel nun ihre Gefühle offenbaren würde. Schon stellte er sich vor, wie sie den Mund aufmachte und Gaius gestand, wie erleichtert sie war, dass er aufgewacht war und wie sehr sie bedauerte, dass sie sich in Lollia so geirrt hatte. Doch dann sagte Antonia nur kalt: „Sie bringt dir nichts anderes als einen Skandal!"
Gaius' Lippen verzogen sich zu einem geheimnisvollen Lächeln, so als hätten ihm die Götter eine Einsicht geschenkt, die seiner Großmutter für immer verborgen bleiben würde. Der Princeps sah glücklich aus, nicht wütend so wie Vespasian sich an seiner Stelle gefühlt hätte. Sein Lächeln brachte Antonia aus ihrem Konzept. Mit zusammengekniffenen Augen schloss sie den Mund und musterte ihren Enkel, als hätte er den Verstand verloren.
„Sie gibt mir Frieden, Großmutter", wisperte Gaius eindringlich und seine Augen glühten vor Willenskraft. „Ihr kann ich vertrauen und ich liebe sie von ganzem Herzen, so wie mein Vater meine Mutter geliebt hat. Die letzte Frau, die du für mich rausgesucht hast, hat versucht mich zu töten. Eine so wichtige Entscheidung werde ich dich nie wieder für mich fällen lassen! Du hast schon immer nur den Rang und nicht den Menschen dahinter gesehen. Bei meinen Eltern mag deine Vorgehensweise funktioniert haben, aber bei mir hast du vollkommen versagt. Der Skandal, den es ohne deine Einmischung übrigens nie gegeben hätte, ist mir egal. Ich will nur sie. Außerdem bin ich der Princeps. Mir ist mit allen alles erlaubt."
„Dann solltest du anfangen zu beten, mein Junge. Das Gift war für dich bestimmt, nicht für sie und wenn mich meine Schwiegermutter Livia eins gelehrt hat, dann das immer die Dosis entscheidend ist und so wie es aussieht, ist deine Portion Gift für ihren Körper zu viel", erklärte Antonia ungerührt der Pein, die ihre Worte in ihrem Enkelsohn auslösten. Angstvoll weiteten sich seine Augen und er hauchte: „Das Kind?"
Seine Großmutter schnaubte nur verächtlich und ihre Kälte versetzte Vespasian einen Stich ins Herz. Noch nie hatte er solches Mitleid für seinen Freund empfunden.
„Das Kind wird sie nicht retten", meinte Antonia eisig. „Als ihr Gemahl ihr mitteilte, dass du erkrankt bist, war die Nachricht für die Ärmste ein solcher Schock, dass sie ihr Kind verlor. Ich rate dir die Götter um Beistand anzuflehen, aber mit dem Schlimmsten zu rechnen."
„Geh und lass mich allein!", befahl Gaius und starrte mit leerem Blick zur Decke hinauf. Sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske. Mit einem spöttischen Nicken verabschiedete sich Antonia und verließ das Schlafzimmer ihres geschwächten Enkels. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, gab sich Gaius seiner Verzweiflung hin. Eine einzige Träne rann ihm aus dem Augenwinkel über seine ausgezehrte Wange und versiegte in seinem hellen Haar.
Vespasian war vollkommen elend zumute. Gequält schloss er die Augen und versuchte die Geräusche seiner Umgebung auszublenden. Er wollte seinen Freund nicht so sehen. Hatte er nicht endlich genug Dinge mitansehen müssen? Wieso konnte diese Gottheit nicht endlich genug von ihm bekommen.
„Es sieht nicht so aus, als ob ihr Körper noch lange gegen das Gift ankämpfen kann, Herr. Betet weiter, vielleicht werden die Götter ihre Meinung noch ändern und ein Wunder bewirken. Aber Ihr solltet Euch auf das Schlimmste gefasst machen", sagte eine fremde Stimme und durchbrach Vespasians mentale Schutzmauern. Sein Herz schlug ihm sofort bis zum Hals. Panisch öffnete er die Augen und starrte in das Gesicht eines Fremden. Der Nase nach ein Grieche. Hinter ihm lag Aurelia in einem schmalen Bett. Sie sah furchtbar aus. Ihr Haar war wirr und zerzaust. Ihre Haut war so blass, dass Vespasian jede Ader darunter ausmachen konnte. Durch das Fieber waren ihre Wangen stark gerötet und ihr ganzer Körper war von einer feinen Schweißschicht überzogen. Ihre Gliedmaßen zitterten und zuckten unkontrolliert. In diesem fieberhaften Dämmerschlaf murmelte sie leise Worte vor sich hin. Meist rief sie nach Gaius, der auf einem imposanten Stuhl neben ihrem Bett saß.
Besorgt ergriff ihr Geliebter ihre Hand und drückte einen behutsam einen Kuss auf ihren Handrücken. Vespasian war sich nicht sicher, ob sein Freund die Worte des Arztes gehört hatte. Doch ohne den Blick von ihrem fiebernden Gesicht zu lösen, bedankte er sich höflich bei dem Griechen und entließ ihn.
„Bitte, verlass mich kein zweites Mal", raunte Gaius an ihre heiße Haut, dann legte er ihre Handinnenfläche an seine Wange und schloss erschöpft die Augen. Wie viel Zeit wohl vergangen war, seit er wieder zu sich gekommen war? Vespasian vermochte es nicht zu sagen. Denn Gaius sah schrecklich aus. Blass, schwach, erschöpft und voller Sorge. Der Raum wurde so still, dass nur Aurelias unregelmäßige Atemzüge zu hören waren. Eine Weile genoss Gaius ihre Nähe, dann schlug er die Augen auf und flüsterte mit einem zärtlichen Lächeln: „Ich bin mir nicht sicher, ob du schon zu weit von mir weg bist. Aber ich will, dass du weißt, dass ich gehört habe, was du mir versprochen hast. Bitte wach auf und lass mich im Licht deiner Liebe baden. Ich brauche dich. Kämpfe, Aurelia. Kämpfe für uns. Lass nicht zu, dass sie dich mir wegnimmt."
Langsam nahm Gaius ihre Hand von seiner Wange, um ihre zarte Hand mit beiden Händen zu ergreifen. Behutsam stützte er die Ellenbogen auf ihrer Matratze ab und betete das Kinn auf ihren ineinander verschlungenen Fingern. Ein tiefer Frieden durchflutete Vespasian bei diesem innigen Anblick. Es war vollkommen paradox. Seine Cousine lag dort im Sterben, während ihr Geliebter sich verzweifelt an die Hoffnung klammerte, dass sie durch ein Wunder Mors doch noch entkommen würde.
Schritte und aufgebrachte Stimmen zerrissen die friedvolle Stille. Vespasian meinte Drusillas Stimme unter dem Gewirr zu erkennen. Aber die Tür dämpfte den Streit so stark, dass er keine Worte verstehen konnte. Ungerührt verharrte Gaius in seiner Position und wachte weiter über seine fiebernde Geliebte.
Im nächsten Augenblick wurde die Tür mit einem lauten Knall aufgerissen und eine kleine Menschentraube stürmte in das Zimmer, deren Streit sofort verstummte. Ruckartig fuhr Vespasians Kopf herum und er musterte die Gesichter der Ankommenden. Es handelte sich um Gaius' Schwestern und seinen Doppelgänger, aus dessen vor Zorn gerötete Wangen schlagartig alles Blut wich, als er Aurelia auf dem Bett entdeckte. Zögerlich trat sein anderes Ich zu seiner Gemahlin, in seinem Rücken verschränkte Drusilla aufgebracht die Hände vor der Brust. Energisch presste sie die Lippen aufeinander, so als würde sie seinem Alter Ego gern noch viel mehr an den Kopf werfen.
„Wie geht es ihr?", erkundigte sich der andere Vespasian mit rauer Stimme. Langsam drehte sich Gaius zu ihm um. Durch dessen eisigen Blick erschrocken und getroffen zugleich zuckte sein Doppelgänger zusammen.
„Verzeih die Störung, Bruder", sagte Agrippina sanft und legte Gaius mitfühlend eine Hand auf die Schulter. „Aber er wollte uns einfach nicht glauben, wie schlecht es um sie steht."
Empört schüttelte Gaius den Kopf, verengte die Augen und schürzte die Lippen. Scharf fuhr er den anderen Vespasian an: „Hast du etwa gedacht, ich hätte mir das alles nur ausgedacht, damit ich mich mit deiner Frau in aller Ruhe vergnügen kann, während du in Caenis' Armen um ihr Leben fürchtest?"
Verlegen kratzte sich sein Doppelgänger am Hinterkopf und wich den wütenden Blicken der Geschwister aus. Offensichtlich war er direkt von seiner Geliebten zu seiner Gemahlin geeilt. An seinem Schlüsselbein prangte eindeutig ein kleiner, roter Fleck. Am liebsten wäre Vespasian vor Scham im Boden versunken. Eigentlich hatte er mit Caenis eine Abmachung, dass ihre gemeinsamen Nächte keine sichtbaren Spuren am Körper des anderen hinterließen. Nur manchmal war ihre Leidenschaft zu stark, sodass sie diese Grenze doch überschritten und wenn er schon so deutlich gezeichnet worden war, wie musste sie dann nun aussehen? Eifersucht durchflutete Vespasians Körper. Mühsam schluckte er seine Gefühle hinunter und konzentrierte sich auf sein Traumbild.
Enttäuscht schüttelte Gaius den Kopf und wandte sich wieder Aurelia zu. Seine ungesagte Botschaft schwebte im Raum, als hätte er sie herausgeschrien. Sie hatte etwas Besseres als einen solchen Ehemann verdient und Vespasian konnte seinem Freund nur beipflichten.
„Könnte ich bitte einen Augenblick allein mit ihr verbringen?", bat sein Doppelgänger geknickt. Gaius' Antwort war ein belustigtes Schnauben. Drusilla öffnete schon den Mund, doch da wurde die Tür erneut geöffnet und ein Prätorianer schlüpfte in das Zimmer. Ohne die anderen Anwesenden eines Blickes zu würdigen, stolzierte Macro zu seinem Princeps und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Hass flackerte in Gaius' Augen auf. Dann nickte er Macro knapp zu, drückte Aurelia einen flüchtigen Kuss auf den Handrücken und erhob sich. Ihre zarte Hand fiel zurück auf das Kopfkissen und verkrampfte sich in den weichen Stoff. Leise murmelte sie ein paar Worte, die Vespasian nicht verstand. Aber Gaius sah für einen Herzschlag so aus, als müsste er gegen sich selbst ankämpfen. Seine rechte Hand zuckte, so als wollte er sie wieder nach ihr ausstrecken. Aber dann zwang er sich den Blick von ihr abzuwenden und erklärte mit harter Stimme: „Es gibt etwas, das ich erledigen muss. Drusilla, lass sie nicht aus den Augen und lass mich rufen, wenn sich etwas an ihrem Zustand ändern sollte!"
Ein Hüsteln ermahnte ihn zur Eile. Macro stand bereits im Türrahmen. Noch etwas unsicher auf den Beinen, aber ohne Stütze, folgte Gaius seinem Prätorianerpräfekten aus dem Raum.
Obwohl Vespasian lieber bei Aurelia geblieben wäre, zwang ihn die Gottheit den beiden zu folgen. Als er stehen blieb, verschwamm die Welt vor seinen Augen und er fand sich in einem hübschen Zimmer wieder. Die Fenster waren klein. Die einzige Lichtquelle waren zwei Öllampen. Vor der geschlossenen Tür hatte Macro Stellung bezogen und verfolgte aufmerksam das eheliche Drama, das sich vor seinen Augen abspielte. Auf dem Bett räkelte sich verführerisch Lollia und blickte spöttisch zu dem vor Wut zitternden Gaius auf.
„Bist du hier, um mich endlich um Verzeihung zu bitten oder willst du mir die freudige Nachricht überbringen, dass deine kleine Hure in der Unterwelt angekommen ist?", fragte sie mit rauchiger Stimme. Mit einem Schrei stürzte sich Gaius auf seine Ehefrau, packte sie bei den Haaren und zog sie vom Bett. Kreischend versuchte sich Lollia gegen ihn zu wehren, doch seine Wut verlieh ihm eine unbändige Kraft. Mit voller Wucht schleuderte er sie auf einen Stuhl und baute sich vor ihr auf.
„Du weißt genau, wieso ich hier bin!", zischte Gaius und Lollias Körper begann vor Angst zu zittern. Ihr Atem beschleunigte sich. Ungerührt fuhr er fort: „Du hast Macro gesagt, du würdest mir das Gegenmittel geben, wenn ich zu dir komme. Hier bin ich. Lass die Spielchen und gib es mir. Dann lasse ich dich mit dem Leben davonkommen."
„Interessiert dich nicht, wieso ich es getan habe?", wisperte sie aufgeregt und lehnte sich auf ihrem Stuhl weiter vor, sodass sich ihre Lippen fast berührten. Einen Herzschlag musterte Gaius sie ausdruckslos, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Erschrocken zuckte Vespasian zusammen, während Macro keine Miene verzog. Lollia zog einen Schmollmund. Ob sie von seiner Reaktion tatsächlich beleidigt war oder dies ein erneuter Versuch war ihn zu verführen, vermochte Vespasian nicht einzuschätzen. Dafür kannte er sie zu schlecht.
Tief holte Gaius Luft und das Gelächter legte sich. Gespielt nachdenklich zog er eine Augenbraue hoch und meinte spöttisch: „Lass mich raten, wenn du mich nicht haben kannst, dann sollte mich auch keine andere haben? Du warst schon krank vor Eifersucht auf sie, als du sie das erste Mal gesehen hast, weil du da schon wusstest, dass sie eines Tages deinen Platz einnehmen würde."
Überrascht schwieg Lollia und senkte den Kopf, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte.
„Dies ist das erste richtige Gespräch, das wir beide führen", meinte sie nach einer Weile betrübt. „Wieso hast du mich immer so auf Abstand gehalten?"
„Für mich gab es immer nur sie", gab Gaius ernst zu. „Daran wird sich auch nie etwas ändern. Ich habe dich nicht angerührt, damit ich dich zu deinem richtigen Ehemann und deinen Kindern hätte zurückschicken können. Das habe ich dir bei unserer ersten Begegnung gesagt. Aber du warst so geblendet von der Macht deiner Position, dass du vergessen hast, was im Leben wirklich wichtig ist."
Seit wann war sein Freund Gaius so weise? Wo war der Junge, der sich leichtfertig von einem nächtlichen Abenteuer ins Nächste stürzte und für den das Leben nur ein riesiges Spiel war? Seit wann scherte er sich um Regeln oder Gesetze? Wann hatte er aufgehört sich einfach die Dinge zu nehmen, die er haben wollte? Mit einem Mal wurde Vespasian bewusst, wie wenig er den erwachsenen Gaius kannte. Konnte es sein, dass sich der kleine, vergnügungssüchtige Rebell in einen verantwortungsbewussten und umsichtigen Princeps verwandelt hatte? War eine solche Verwandlung wirklich möglich?
Lollias leise Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, als sie fragte: „Wie wird mein Leben aussehen, nachdem ich dir das Gegenmittel gebe?"
Gaius seufzte und setzte sich auf die Tischkante. Müde rieb er sich über die Augen. Dann erklärte er um einen sachlichen Ton bemüht: „Du darfst dir eine Insel aussuchen, auf der du den Rest deines Lebens verbringen wirst. Du hast mich verraten und versucht mich zu töten. Eine andere Gnade kann ich dir nicht erweisen. Wenn ich dich einfach so davonkommen lassen würde, ermutige ich damit nur meine Feinde ein Attentat auf mich zu verüben, weil ich schon meine eigene Ehefrau für ein solches Vergehen nicht richtig bestraft habe. Gib mir bitte das Gegenmittel."
Eine Weile saß Lollia auf ihrem Stuhl und schaute aus einem der kleinen Fenster, als würde sie in den dunklen Schatten der Nacht ihre Zukunft sehen können. Vespasian hätte gern die Stille unterbrochen oder seinem Freund gezeigt, dass er nicht allein war. Plötzlich wandte sich Lollia an Macro.
„Eure Männer haben doch meine Gemächer durchkämmt, nicht wahr?", fragte sie mit einem Anflug von Spott. „Sie haben mich sogar vollständig entkleidet, um meine Kleidung und meinen Körper abzusuchen. Wieso haben sie das Gegenmittel dann nicht gefunden, wenn ich es bei mir haben soll?"
Verwirrt blickte Gaius zu seinem Prätorianerpräfekten und verlangte nach einer Erklärung. Unbehaglich verlagerte Macro das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Fast hatte Vespasian Mitleid mit dem Mann. Ernst und behutsam sagte er: „Ich fürchte, sie hat kein Gegenmittel, Herr. Wahrscheinlich gibt es keines und sie verwendet Eure Hoffnung gegen Euch, um Eure Suche zu behindern und Aurelias Heilung zu verhindern."
Gaius sah aus, als hätte man ihn mit aller Kraft in den Bauch getreten. Entsetzt blickte er auf seine Ehefrau hinunter, die ihn höhnisch angrinste. Sie hatte ihn wirklich an der Nase herumgeführt, um ihre gefürchtete Rivalin endgültig zu vernichten.
Mit einem Schlag ging alles ganz schnell. Wut und Hass ergriffen von seinem Freund Besitz und brachen eine Seite in ihm zum Vorschein, von dessen Existenz Vespasian nicht geahnt hatte. Denn er hatte immer gedacht, dass Gaius seine Feinde im Feuer seines Zorns verbrennen würde und er seine Gefühle in die Welt hinausschreien würde. Aber Gaius war mit einem Mal vollkommen ruhig. Sein Blick ließ Vespasians Eingeweide gefrieren und die Temperaturen in dem hübschen Raum sanken schlagartig. Wie ein Blitz stürzte er sich auf Lollia, die einen überraschten Schrei ausstieß. Krachend knallte ihr Kopf auf die Tischplatte. Bevor Vespasian verstand, was vor sich ging, drückte Gaius sie auch schon mit seinem Körper auf die Tischplatte. Beinahe hätten sie wie Liebende ausgesehen. Aus einer Tasche seiner Tunika holte Gaius einen kleinen Flakon, bei dessen Anblick sich Lollias Augen vor Entsetzen weiteten und sie sich unter ihm zu winden begann. Mühelos hielt er sie mit seinem Körper gefangen, als wäre sie nicht die erste Frau, die sich in dieser Position gegen ihn zu wehren versuchte. Ruckartig zog er mit den Zähnen den Stöpsel aus dem Fläschchen und spuckte ihn neben ihr Gesicht auf den Tisch. Dann zerrte er grob Lollias Kopf nach hinten und rammte ihr den Flakon zwischen die Lippen. Unnachgiebig wie ein Rachegott schüttete er den Inhalt der kleinen Flasche in ihren Mund und sobald es leer war, warf er es achtlos zu Boden und legte seine freie Hand auf ihren Mund und hielt ihr die Nase zu. Panisch blickte sie zu ihm auf und versuchte gegen ihn anzukämpfen. Genauso gut hätte sie auch gegen eine Statue kämpfen können. Trotz seiner monatelangen Krankheit verfügte Gaius angestachelt von seinem Hass über die nötige Kraft. Langsam verfärbte sich ihr Gesicht vor Anstrengung. Der Rachegott hob nur herausfordernd eine Augenbraue. Lollia schluckte. Grob ließ Gaius sie los und wich von ihr zurück. Gelassen strich er seine Tunika glatt. Als sie sich die Finger in den Hals stecken wollte, um das Mittel zu erbrechen, drehte Macro ihre Arme auf ihren zarten Rücken und verband sie routiniert mit einem Strick.
Lässig setzte sich Gaius auf die Tischkante und blickte auf seine nach Luft ringende Frau. Ein grausames Lächeln umspielte seine Lippen.
„Wie schmeckt dir dein eigenes Gift, Lollia?", erkundigte er sich höflich und bekam von ihr nur ein wütendes Fauchen. Amüsiert verschränkte er die Arme vor der Brust.
„Ich bin sehr gespannt, wie eine solch hohe Dosis sich auf deinen Körper auswirkt", vertraute Gaius ihr an und wandte sich dann an Macro. „Aus ihren Aufzeichnungen ging hervor, dass sie mir gerade mal zehn Tropfen in den Tee gemischt hat oder?"
Zur Bestätigung nickte der Prätorianerpräfekt knapp und Vespasian konnte nicht fassen, wie dumm Lollia vorgegangen war. Wer hielt in seinen persönlichen Gegenständen die genaue Vorgehensweise seines größten Verbrechens fest? Doch dann verstand er. Sie wollte überführt werden.
Als sich Lollias Atmung normalisierte, richtete sie sich langsam auf. Neugierig sah Gaius zu, wie sie einen Schritt auf ihn zutrat. Das Seil rieb bereits an der zarten Haut ihrer Handgelenke.
Plötzlich gaben ihre Beine unter ihr nach und ihr Körper begann unkontrolliert zu zucken. Überrascht hob Gaius die Augenbraue.
„Anscheinend verkürzt die Menge des Gifts die Reaktionszeit", stellte Macro nüchtern fest. Sofort wollte Gaius wissen, wie lange Aurelias Körper keine Anzeichen gezeigt hatte. Lollia begann hysterisch zu lachen.
„Drusilla hat sie auf der Treppe zurückgehalten. Aber ich vermute, sie wäre noch im Atrium zusammengebrochen", meinte Macro nachdenklich. Gaius nickte. Dann wandte er sich mit einem Lächeln an Lollia.
„Wenn du mir sagst, wo das Gegenmittel ist, werde ich es dir geben", bot er großzügig an. Das hysterische Lachen seiner Ehefrau verwandelte sich in ein Gegacker. Ihre Stirn glänzte vor Schweiß und auch ihr Kleid klebte an ihr wie eine zweite Haut.
„Es gibt kein Gegenmittel", höhnte sie und Triumph schwang in ihrer Stimme mit. „Ich wollte, dass du nie wieder aufwachst. Es gibt keine Rettung, aber ich verspreche dir, dass ich deine kleine Hure im Tartaros von dir grüßen werde. Ihre Liebe zu dir war ihr Untergang und das ist mir Rache genug. Es ist deine Schuld, dass sie stirbt und du wirst den Rest deines Lebens damit verbringen einen Geist zu lieben, während du dich selbst wegen ihres Todes hasst."
Bedrohlich langsam stand Gaius auf und ging neben Lollia in die Hocke. Beinahe liebevoll strich er ihr eine wirre Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht. Dann sprach er mit feierlichem Ernst: „Natürlich werde ich sie vermissen. Vielleicht wird mich ihr Verlust sogar brechen und ich werde endgültig den Verstand verlieren. Aber wenigstens habe ich mich an dir gerächt. Es gibt keine bessere Strafe für dich, als an deinem eigenen Gift zu sterben. Ich werde dafür beten, dass die Götter der Unterwelt noch grausamer zu dir sein werden, als ich es je zu sein vermag."
Zorn und Hass funkelten in Lollias schönen Augen. Dann wurde ihr hübsches Gesicht zu einer schmerzverzerrten Maske. Röchelnd rang sie nach Luft, so als würde ihr Inneres in Flammen stehen. Ihr ganzer Körper zuckte und zitterte unkontrolliert. Sie öffnete den Mund, aber sie hatte keine Kraft ihren Schmerz hinauszuschreien. Es war ein entsetzlicher Anblick, den Gaius mit neugieriger Faszination genoss.
Kurz darauf bäumte sich Lollias Körper auf, dann erstarrte sie und das Licht ihrer Augen brach. Ihre Seele hatte ihren gequälten Leib verlassen. Kalt blickte Gaius auf den Leichnam seiner Attentäterin herab. Ohne Hast stand er auf, strich seine Tunika glatt und nickte Macro vielsagend zu. Dann verließ er den Raum, ohne sich ein letztes Mal nach seiner Ehefrau umzusehen. Er hatte ihr Gift überlebt, welches sie zur Strecke gebracht hatte. Dies war seine persönliche Rache. Doch zugleich hatte er ihr einen letzten Funken Würde zugestanden, indem er ihr einen öffentlichen Prozess verschont hatte. Das zerstörerische Glitzern in den Augen des Princeps machte Vespasian Angst. Sein Freund hatte gerade erst begonnen.

Aurelia ~ De somnis Vespasiani || Series Romana BonusgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt