IV

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Erschöpft schloss Vespasian die Augen und verweigerte sich den Bildern seines Traums. Blind trieb er durch die Szenen, ignorierte die Lichtblitze, die durch seine geschlossenen Lider drangen und ihm zum Zuschauen verführen wollten. Er blendete die Stimmen, das Gelächter und die Musik aus. Diese kleine Auszeit missfiel der Gottheit, die ihm diesen Traum geschickt hatte. Aber er brauchte eine Pause von diesem anderen Leben und seinem geisterhaften Zustand.
Irgendwann drang eine Stimme zu ihm durch. Sie wisperte voller Sehnsucht einen Namen, der nicht der seine war und dennoch schlug er sofort die Augen auf. Sie befanden sich in ihrem kleinen Schlafzimmer. Aurelias Kleid wies einige Falten auf. Vermutlich hatte sie die vergangenen Stunden damit verbracht, auf der Fensterbank zu sitzen und zu lesen. Denn auf dem dunklen Holz lag einsam eine achtlos abgelegte Schriftrolle.
Das leise Klirren eines Schlüssels, der im Schloss herumgedreht wird, riss Vespasian von ihrem Anblick los. Nervös blickte er zur Tür und verstand im ersten Moment nicht, wieso ein Sklave in ihr Schlafgemach eindrang und woher sie dessen Namen kannte. Dann drehte sich der Eindringling zu ihr um und schenkte ihr ein erleichtertes Lächeln. Wäre Vespasian kein Geist, hätte er sich übergeben müssen. In diesem Aufzug hätte er seinen Freund niemals erkannt.
„Du solltest nicht hier sein", sagte sie schwach und in einem Versuch den Stoff zu glätten, fuhr sie hastig über ihr Kleid und betonte damit unbewusst ihren gewölbten Bauch. Automatisch huschte Gaius' Blick an ihr herunter und für einen Herzschlag sah er so furchtbar traurig aus. Dann hob er den Kopf und schenkte ihr ein schüchternes Lächeln. Aurelia schmolz bei seinem Anblick dahin wie Wachs in der Sonne. Beschwichtigend erklärte er: „Keine Angst, ich habe ihn ans andere Ende der Stadt geschickt. Dort wird er eine Weile beschäftigt sein. Ich musste dich einfach sehen."
Einladend streckte er die Hand nach ihr aus. Automatisch trat sie auf ihn zu und verschränkte seine Finger mit den ihren. Weiter gingen sie nicht, was Vespasian ungemein erleichterte, beobachtete er doch gerade die Frau, die mit ihm verheiratet war. An ihr hatte er nicht wirklich gezweifelt, aber seinem Freund traute er alles zu. Gaius hatte nunmal einen Ruf, der nicht für ihn sprach.
„Ich habe meine Großmutter gebeten Caenis endlich Einhalt zu gebieten", raunte der Princeps. Überrascht hob Aurelia den Kopf und als sie den Mund für eine Erwiderung öffnete, legte Gaius einen Finger auf ihre Lippen und fuhr rasch fort: „Aber sie zieht ihre Sklavin mir vor!"
Behutsam zog sie ihren Kopf zurück und blickte ihn verwirrt an. Dann wollte sie von ihm wissen, wieso er dies getan hatte. Unsicher verlagerte Gaius sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Zitternd holte er Luft und gestand: „Ich ertrage es nicht dich wegen ihm so leiden zu sehen. Nur einem Narr genügt eine Frau wie dich nicht und dieser Bauerntrottel hat dich einfach nicht verdient."
„Vespasian liebt sie", widersprach Aurelia heftig und für einen Herzschlag war Vespasian dankbar, dass sie ihn so verteidigte. Doch dann sprach sie weiter: „Ein Verbot würde ihn vielleicht in mein Bett treiben. Aber das würde unsere Ehe nicht retten, weil ich ihn ebenfalls nicht liebe und ich kann so nicht weiter leben."
„Warum hast du dann eingewilligt ihn zu heiraten?", unterbrach Gaius sie leidenschaftlich und versuchte sie enger an sich zu ziehen, aber Aurelia machte sich von ihm los. Wütend funkelte sie zu ihm auf und kam richtig in Fahrt: „Ich habe dieser Heirat nie zugestimmt! Sogar auf meiner eigenen Hochzeit habe ich mich geweigert dieses verdammte Gelübde zu sprechen und trotzdem haben alle Gäste geglaubt, dass ich die Formel gesprochen hätte, weil meine Meinung nie jemanden interessiert hat! Nicht einmal dich! Du hast monatelang nicht mit mir gesprochen und jetzt willst du mir plötzlich helfen? Sei ehrlich zu dir selbst, Gaius! Hast du mich jemals gefragt, ob ich das alles hier will? Wieso hast du mich nie gefragt, ob sich meine Gefühle für dich geändert haben, während ich in Cosa war? Warum hast du ausgerechnet sie geheiratet? Wolltest du mich für diese beschissene Schwindelehe mit Vespasian bestrafen? Hast du gedacht, ich hätte je aufgehört dich zu lieben?"
Weiter kam sie nicht, denn Gaius hatte ihren hübschen Mund mit seinen Lippen versiegelt. Überrascht riss sie die Augen auf, doch dann schlossen sich flatternd ihre Lieder. Mit einem Seufzen legte sie ihre Arme um seinen Hals und presste sich gegen seinen Körper. So einen Kuss hatte Vespasian noch nie gesehen. Natürlich brannten sie vor Leidenschaft. Doch aus irgendeinem Grund drängten sie nicht zum Bett, um miteinander zu verschmelzen. Es schien, als wäre ihnen dieser Kuss genug. All ihre Zärtlichkeit, Sehnsüchte und Ängste lagen in dem Spiel ihrer Münder und auf diese Weise sagten sie einander so viel mehr, als Worte es jemals vermocht hätten. Da verstand Vespasian. Das war Liebe. Denn sie waren zwei Hälften eines Ganzen. Man konnte nicht leugnen, dass ihre Lebensfäden schon immer miteinander verbunden waren. Fast meinte Vespasian Venus und Cupido aufseufzen zu hören, weil dieses wunderschöne Paar endlich zueinander gefunden hatte. In seinem verrückten Albtraum war ihre Liebe füreinander das Einzige, was ihm real vorkam. Doch sie waren immer noch mit anderen Partnern verheiratet. Wie konnte etwas, das so richtig war, gleichzeitig so falsch sein?
Keuchend beendete Gaius den Kuss und betrachtete verzaubert ihr hübsches Gesicht. Eine feine Röte überzog ihre Wangen, ihre Lippen begannen anzuschwellen und ihre Augen waren dunkel vor Verlangen und Liebe.
„Bitte, Aurelia, komm zu mir zurück", flehte Gaius und strich ihr liebevoll eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß, du hast Angst. Aber ich brauche dich, sonst verliere ich noch den Verstand."
Gequält schloss sie kurz die Augen und schüttelte langsam den Kopf. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als sie sagte: „Ich kann nicht, Gaius. Selbst wenn es nicht sein Kind wäre, gehört es ihm, nicht mir. Wenn ich ihn verlasse, muss ich ihm mein Baby überlassen und das kann ich nicht. Bitte zwing mich nicht zwischen dir und meinen Kind zu wählen."
Voller Verständnis blickte er auf sie herab und Vespasian konnte ihm ansehen, wie er sich in diesem Augenblick noch mehr in Aurelia verliebte. Schweigend breitete sich zwischen ihnen aus. Gern hätte er sich für seinen Freund gefreut, doch die Traurigkeit des Moments erdrückte ihn.
„Ich werde eine Lösung finden", versprach Gaius sanft. „Wie lange es dauern wird, weiß ich nicht. Aber ich bin der erste Mann im Staat und wenn ich keinen Präzedenzfall finden kann, dann werde ich eben einen schaffen. Ich liebe dich und ich weiß, dass ich diesem Kind ein besserer Vater sein werde, als Vespasian jemals könnte. Vielleicht könnte ich ihn adoptieren, sobald er auf die Welt kommt. So muss er nie erfahren, dass er nicht mein leiblicher Sohn ist."
Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht, dann wurde ihre Miene wieder traurig. Vorsichtig erkundigte sie sich, was er tun würde, wenn das Kind ein Mädchen sei.
„Dann werde ich sie ihm erst recht nicht überlassen", erwiderte Gaius sanft und hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Erleichtert vergrub sie das Gesicht an seiner Brust und schloss die Augen. Eine Weile verharrten sie reglos wie die Statue zweier Liebende in ihrer Umarmung, bis Aurelia leise aufseufzte.
„Was ist mit deiner Frau?", fragte sie besorgt. Das Geräusch, das Gaius von sich gab, war eine Mischung aus Schnauben und Lachen. Sofort hob Aurelia den Kopf und ihre Augen bohrten sich in seine. Ernst antwortete er: „Macht dir um Lollia keine Sorgen. Ich habe sie nicht angerührt und sobald ich weiß, wie du dich von Vespasian scheiden lassen kannst, ohne ihm dein Kind zu überlassen, werde ich meine Ehe mit ihr annullieren und sie zu ihrem Ehemann zurückschicken. Meine Großmutter hätte sich niemals in die Wahl meiner Ehefrau einmischen dürfen. Nur deshalb hat sie dich mit diesem Bauern verkuppelt. Sie hat Angst vor dir, weil sie dich nicht kontrollieren kann und ich fürchte mich vor einer Ehefrau, der ich nicht vertrauen kann."
Wieder verfielen sie in Schweigen und nun konnte Vespasian beobachten, wie sich die Gedanken in Aurelias Kopf überschlagen.
„Glaubst du, dass der Senat auf deiner Seite stehen wird?", wollte sie besorgt wissen und Gaius zuckte nur mit den Schultern.
„Du bist das alles wert", raunte er. „Vergiss das nie. Meine Liebe und meine Treue gehören allein dir."
Das Letzte, was Vespasian sah, war, wie sich Aurelia auf die Zehenspitzen stellte, um Gaius einen weiteren Kuss zu schenken.
Im nächsten Augenblick stand er in einem fremden Arbeitszimmer. Neugierig blickte er sich um. Es gab zwei Türen. Die eine war dem massiven Holzschreibtisch gegenüber, die andere an der Wand zu seiner Linken. Das Zimmer war die perfekte Mischung aus schlichter Eleganz und Reichtum. Es musste sich um das Studierzimmer eines Adligen handeln. Dafür waren die Möbel zu aufwendig gearbeitet. Anstelle von teuren Wandteppichen oder leuchtenden Fresken zierten die Wände kunstvolle Blumenranken. Der Raum war geräumiger als der seines Onkels, aber irgendwie fehlte ihm die Atmosphäre der Öffentlichkeit. Weil im Arbeitszimmer der Hausherr seine Klienten empfing, diente jedes einzelne Geschäftszimmer, das Vespasian je gesehen hatte, der Selbstdarstellung seines Besitzers. Dies jedoch war ein Raum zum Arbeiten, nicht zum Protzen. Aber dennoch waren weder die Möbel noch die Verzierungen der Wände praktisch genug, um den Ansprüchen eines Sklaven zu genügen. Der Tisch war voller Schreibutensilien.
Leise öffnete sich die Tür zu seiner Linken und Gaius trat zügig ein. In seinen Armen hielt er Wachstafeln und Schriftrollen. Seine Miene war hochkonzentriert. Natürlich, welcher andere Mann wollte oder könnte sich den Luxus eines privaten Arbeitszimmers gönnen?
Im letzten Moment sprang Vespasian zur Seite, sonst wäre sein Freund mitten durch ihn hindurch gerauscht. Einen flüchtigen Blick erhaschte er noch auf das gigantische Bett, in welches sowohl der richtige als auch der Traum-Gaius Aurelia bald bringen würde, um sie zu seiner Frau zu machen. Um die Bilder von den beiden in diesem Bett loszuwerden, die wie wilde Fantasien in seinem Geist auftauchten, schüttelte Vespasian seinen Geisterkopf und konzentrierte sich auf seinen Freund. Dieser saß bereits an seinem Schreibtisch und studierte aufmerksam die Wachstafeln, die sich vor ihm stapelten. Neugierig trat Vespasian hinter ihn und las über die Schulter seines Freundes. Es handelte sich um die Aufzeichnung von Scheidungen. Soweit Vespasian wusste, genügten schon die Worte „Geh aus meinem Haus", um eine Ehe zu scheiden.
„Hast du etwas gefunden, was dir weiterhilft?", fragte eine vertraute Stimme hinter Vespasian. Erschrocken fuhr er herum und blickte direkt in das hübsche Gesicht von Julia Drusilla. Gaius' tiefes Seufzen trieb seine Schwester dazu sich hinter ihn zu stellen und ihm die Arme um den Hals zu legen.
„Die Gesetze sind eindeutig", stöhnte Gaius frustriert. „Ein ehelich geborenes Kind gehört automatisch der Familie seines Vaters an und wenn die Ehe geschieden wird, bleibt das Kind bei seinem Vater. Selbst unser Vorfahr Augustus hat den neugeborenen Drusus mit einem Lächeln an Tiberius Nero geschickt, obwohl es ihn vorher nicht weiter gekümmert hatte eine Schwangere zu heiraten. Aber gut, hätte er Livias Sohn nicht an seinen Vater übergeben, hätte seine Exfrau Scribonia seine Tochter Julia beanspruchen können. Ich habe kein Kind zu verlieren, vielleicht sollte ich es einfach riskieren."
Vespasian hatte erwartet, dass Drusilla ihren Bruder lange mustern oder durch Schweigen Zeit schinden würde. Aber sie stimmte ihm sofort zu und ermutigte ihn Aurelias Kind in ihre Familie aufzunehmen. Gemeinsam begannen sie Pläne zu schmieden.
Das leise Rascheln von Stoff riss ihn vom Anblick der Geschwister los. Unkontrolliert eilte Vespasian durch die fremden Gemächer und entdeckte eine Frau, die versuchte mit den Schatten zu verschmelzen. Als sie eine massive Holztür erreichte, blickte sie über ihre Schulter zurück, ob die Geschwister ihre Anwesenheit bemerkt hatten und Vespasian konnte einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Die Frau war Lollia Paulina und ihr Blick verriet, dass sie sich dem Willen ihres Gemahls ganz sicher nicht beugen würde. Eher würde sie sterben, als sich von ihm durch eine andere Frau ersetzen zu lassen. Seltsamerweise erinnerte sie ihn in diesem Augenblick an die Version von Caenis, die er in diesem Traum erlebt hatte.

Aurelia ~ De somnis Vespasiani || Series Romana BonusgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt