LONELY HEART

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Ich würde gerne sagen, dass die ersten Stunden wie im Flug vergehen, aber es fühlt sich eher an, als würden sie sich wie ein Kaugummi lang ziehen. 
Nach anderthalb Stunden Unterricht habe ich es dann endlich geschafft. Ich will gerade den Klassenraum verlassen, die Person neben mir packt gerade ihre Sachen zusammen. Unter ihren Arm trägt sie ein Notizbuch in schwarzem Einband mit aufgeklebten Stickern. 
"Josh, kannst du Kim vielleicht unser Schulgebäude zeigen?", fragt Frau Möller die Person neben mir, die anscheinend Josh heißt. Sie nickt nur knapp und begibt sich aus dem Raum. Ich laufe ihr nach. 
"Hey. Ich, ähm, bin Kim. Und du?", stelle ich mich vor, als wüsste nicht eh schon jeder wie ich heiße. 
"Josh.", sagt die Person nur knapp. Ich nicke wissend. 
"Was sind deine Pronomen?" Ich habe mir irgendwie angewöhnt, diese Frage immer am Anfang zu stellen, einfach, weil ich mich freue, wenn jemand mich danach fragt. Ich bin mir nicht sicher, ob Josh ein genderneutraler Name ist, aber man kann schließlich keiner Person ansehen, welchem Geschlecht sie angehört. Man sollte einfach offen sein und nachfragen. 
Josh scheint jedoch nicht auf meine Frage einzugehen. Josh geht einfach nur strickt gerade aus. immer wieder biegt Josh um eine Ecke und ich folge, allerdings immer etwas verzögert. 
"Na ja, als welches Geschlecht identifizierst du dich?", formuliere ich es einfacher. Mir ist durchaus bewusst, dass Pronomen und Geschlecht nicht immer übereinstimmen, aber für eine Person, die sich mit dem Thema anscheinend noch nicht wirklich beschäftigt zu haben scheint, ist es erstmal die einfachste Erklärung. 
"Hä? Ich bin normal." Ich reiße mich zusammen. Ich hasse dieses Wort. Dieses normal. Was ist denn schon normal ? Wieso ist er anscheinend normal, aber ich nicht? Es ergibt doch gar keinen Sinn!
"Du meinst cis?", sage ich also. 
"Was?" Josh sieht auf, aber läuft zielgerichtet weiter um einige Ecken und schließlich durch ein großes Treppenhaus. Ich habe Schwierigkeiten, mit Josh mitzuhalten, was an dem Tempo liegt, was Josh drauf hat. 
"Cis. Du identifizierst dich mit dem Geschlecht, mit dem du geboren bist.", kläre ich ihn auf. Ich mag es, andere Leute über Geschlechter und Sexualitäten aufzuklären, weil ich mich damit gut auskenne. Wenn ich jedoch nicht auf Interesse oder sogar blöde Kommentare stoße, dann macht es mir keinen Spaß. Trotzdem versuche ich weiterhin, mit der Person zu diskutieren, um eine Antwort darauf zu finden, warum sie so ist, wie sie ist und diese Vorurteile in ihrem Kopf hat. Oft erziele ich damit sogar etwas. 
"Aha. Dann bin ich cis.", sagt Josh und zieht die Tür auf, die zur Aula führt. Hier sitzen viele Schüler*innen und reden miteinander oder essen ihr Frühstück. 
"Und welches Geschlecht? Männlich, weiblich oder keins von beidem?", frage ich. 
"Hä, ich hab doch gesagt, dass ich cis bin. Also männlich. Das sieht man jawohl.", kommt es nur von Josh. Er ist also männlich. Okay. 
"Man kann keiner Person ansehen, was ihr Geschlecht ist.", erwidere ich, während Josh nach draußen läuft. Draußen sind sommerliche fünfundzwanzig Grad und die Sonne knallt auf unsere Köpfe, als würden meine Haare unter Feuer stehen. 
Josh steuert auf eine große leere Wiese zu, auf der mehrere Blumen blühen. Niemand ist dort. Nur viele Meter entfernt sitzen vereinzelt keine Grüppchen oder einzelne Personen, die auf ihre Handys starren oder miteinander reden. 
"Aha.", sagt Josh nur und lässt sich ins Gras auf der Wiese fallen. Ich setze mich neben ihn. 
"Du wolltest mir doch die Schule zeigen.", erinnere ich ihn, aber er klappt nur sein Notizbuch auf und zieht einen Bleistift hervor. Dann beginnt er, ein Gesicht zu skizzieren. 
"Nein. Frau Möller wollte, dass ich das tue.", erwidert er, während er angestrengt die Umrisse des Kopfes zeichnet. Seine blonden Locken fallen ihm tief unter die Augen, was irgendwie gut aussieht. 
"Oh...", sage ich nur, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. "Was machst du in den Pausen hier so?"
"Zeichnen.", sagt er knapp. 
"Cool. Kannst du mir was zeigen?"
Josh sieht auf. Seine großen dunkelbraunen Augen strahlen im Sonnenlicht. Er scheint verlegen zu sein. Aber dann setzt er die Zeichnung ab und blättert in seinem Heft, wobei er es allerdings so hält, dass ich nicht hineinsehen kann. Dann legt er es vor sich. Eine Zeichnung eines Auges kommt zum Vorschein. Es sieht gut aus. Richtig gut. Die langen Wimpern strecken sich bis an den Rand und die Iris ist mit vielen Details ausgestattet. Wie ein echtes Auge. Es sieht wunderschön aus, obwohl es nur mit Bleistift gezeichnet wurde. 
"Das ist richtig gut!", sage ich. 
"Danke." Verlegen klappt Josh das Buch zu, ohne weiter zu zeichnen. Er sieht mich nur an, ohne etwas zu sagen. 
"Was malst du sonst noch so?", frage ich. Josh beginnt, in seinem Buch zu blättern. Immer wieder sehe ich kleine Ausschnitte von Zeichnungen. Als ich die eines Mädchens mit langem gewellten Haar sehe, halte ich meine Hand ins Buch und schlage die Seite auf. Die Skizze ist gut. Es ist ein wunderschönes Mädchen mit gewelltem dunklen Haar, was ihr bis zur Brust reicht. Sie lächelt geradeaus und ihre Augen sind groß und mit langen Wimpern ausgeprägt. 
"Das ist richtig schön. Wer ist das?", frage ich. Joshs Sommersprossen übersätes Gesicht färbt sich in einen hellen Rotton. Er grinst verlogen. 
"Niemand." Er klappt das Heft zu und verstaut es in seinem Rucksack. Okay? Irgendwie ist dieser Josh geheimnisvoll. 
"Okay..." Josh steht schwungvoll auf und schultert seinen hellblauen Rucksack. "Ich muss gehen."
Mit diesen Wörtern verschwindet er und lässt mich alleine auf der Wiese zurück. An meinen ersten Schultag. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und wie ich wieder zurück zu unserem Klassenraum komme. 
Ich schnaufe, dann lasse ich mich auf das warme sommerlich riechende Gras fallen. Alleine. Mit meinem einsamen Herz. LONELY HEART.


I'm not the girl you think I am (DEUTSCH)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt