1 Die Beerdigung

14 1 0
                                    

„Jules war in vielerlei Hinsicht ein besonderer Mensch. Er hat Menschen geliebt – er hat euch alle hier geliebt. Wir haben viel über Menschen gesprochen, das hat er immer gerne getan, und ich weiß aus diesen Gesprächen, wie sehr jeder Einzelne von euch sein Leben bereichert hat. Er hat auch die Menschen geliebt, die er nicht kannte. Er ist Arzt geworden, weil der den Menschen Gutes tun wollte. Eine erfolgreiche Operation, erleichterte Angehörige, ein dankbarer Patient – diese Momente haben ihn angetrieben und ihm so viel bedeutet.

Jules war mit Leib und Seele ein fröhlicher Mensch. Ich weiß nicht, woher er seine Kraft nahm, in den routiniertesten Alltagssituationen plötzlich eine Freude aufkeimen zu lassen, eine Energie zu erschaffen, die jeden vereinnahmte. Ihr alle habt sein ausgelassenes, herzliches Lachen gekannt, und ich denke jeden von uns hat er damit schon einmal angesteckt. Ich glaube, er hat sich ganz schutzlos und uneingeschränkt in dieses Lachen hineinfallen lassen, und dadurch mit solch einer Ehrlichkeit sein tiefstes Inneres offenbart, dass man sich getraut hat, auch selbst seine Hülle, seine Scham fallen zu lassen."

Mehrere in der Trauergemeinde nickten und dem Einen oder Anderen lockten die Erinnerungen ein wehmütiges Lächeln auf die Lippen. Ramon atmete tief ein und blinzelte eine Träne weg, bevor er mit ruhiger, tiefer Stimme weiter sprach.

„Er war für mich weit mehr als nur mein Bruder. Er war mein ganzes Leben lang für mich da: als wir klein waren hat er auf mich aufgepasst und mir voller Stolz alles beigebracht, was er grade erst selbst von unseren Eltern gelernt hatte. Als wir älter wurden, hat er mich auf Partys mitgenommen, bevor ich alt genug war, selbst mit meinen Freunden zu feiern. Wenn wir Nachts nach Hause gekommen sind, hat er mir die verschiedenen Alkoholsorten erklärt und mir Tipps gegeben, wie ich die Mädchen in meiner Klasse ansprechen sollte. Je älter wir wurden, desto mehr wurde er von meinem Lehrer zu meinem besten Freund. Wir konnten uns über alles austauschen und diskutieren. Nachdem wir zu Hause ausgezogen waren und jeder seinen Weg einschlug wurde dieser Austausch noch fruchtbarer, weil wir in ganz unterschiedliche Gewässer des Lebens eingetaucht waren. Wenn wir zusammen waren reflektierten wir gemeinsam über unsere Erlebnisse. Jules war für mich immer mein sicherer Hafen, egal ob wir uns nah oder fern waren, die Gewissheit ihn zu haben war in meinem Denken so fest verankert, dass sie mittelbar auf alle wichtigen Entscheidungen, Überzeugungen, ja, auf meine ganze Persönlichkeit gewirkt hat.

Jules ist viel zu früh von uns gegangen. Sein tragischer Tod hat mich, und sicher auch euch, in den Grundfesten erschüttert. Uns bleiben Erinnerungen an die schönen aber auch die schweren Momente, die wir mit ihm geteilt haben. Vielleicht kann es ein Trost sein, dass Jules sein Leben in vollen Zügen gelebt hat. Er hat alles was er tat danach ausgerichtet was er fühlte und ich denke, er hat nichts bereut.

Ich weiß, dass der Schock uns allen noch im Nacken sitzt und die Trauer noch roh und unverdaut auf unseren Herzen liegt. Aber Jules hätte gewollt, dass wir der Trauer mit Dankbarkeit, mit glücklichen Erinnerungen und mit Freude über das Leben begegnen, und nicht mit Ohnmacht, der Illusion verlorener Möglichkeiten und der Sorge über unsere eigene Vergänglichkeit. Daher möchte ich euch nach der Beisetzung zu einer Totenfeier in der Kastanienallee einladen, um gemeinsam Jules und das Leben zu feiern."

Ramon trat von dem schlichten Rednerpult weg, das am Kopf der dämmrig beleuchteten Trauerhalle aufgestellt war. Er warf einen letzten Blick in den Sarg. Das Gesicht seines Bruders hatte kaum etwas von seiner Lebendigkeit verloren. Die hellbraunen Haare, die Jules immer mit großem Pathos gepflegt hatte, fielen in leichten Locken bis auf das Kinn. Sein kurzer, fast blonder Vollbart gab ihm eine etwas raue, aber sympathische Ausstrahlung. Lachfältchen zeichneten sich um die Augen, die nun für immer verschlossen bleiben würden. Er hatte die gleichen tiefgründigen, dunkelblauen Augen gehabt wie Ramon. Selbst Fremde hatten sie früher allein an den Augen als Brüder erkannt, obwohl sie sich äußerlich ansonsten kaum ähnlich sahen. Ramon hatte dunkle, fast schwarze Haare, die er kurz trug. Er war meistens glatt rasiert und schlanker, wodurch er noch größer wirkte als Jules. Im Alltag trug er meistens eng anliegende, schwarze T-Shirts und Röhrenjeans, die seine sportliche Gestalt noch betonten. Er machte sich nicht viel aus Kleidung und fand ein trotziges Vergnügen darin, sich entgegen jedem modischen Trend in den immer gleichen Outfits zu zeigen. Jules hingegen hatte seiner Garderobe mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Er war gerne durch die Boutiquen der Kaufhäuser geschlendert und hatte Kleidungsstücke in den verschiedensten Stilen, Schnitten und Farben anprobiert, um zu sehen wie er sich darin fühlte und welchen Einfluss sie auf seine Außenwirkung hatten. Dabei hatte er sich jedoch nie einen eigenen Stil zugelegt, sondern nach Lust und Laune kombiniert und gewechselt. An einem Tag war er schick gekleidet, am nächsten sportlich und am dritten ausgefallen bunt. So war es für Ramon keine leichte Aufgabe gewesen die Teile auszuwählen, die seinen Bruder nun auf seine letzte Reise begleiten sollten. Als er vor dem Kleiderschrank gestanden hatte, waren ihm mit jedem Stück Erinnerungen an gemeinsame Momente gekommen und er hatte sich gefühlt, als würde Jules vor ihm stehen, ihn anlachen, ihn an sich drücken. Schließlich hatte er sich für ein beiges Jackett, ein weißes T-Shirt und eine dunkelgraue Hose entschieden, die Jules getragen hatte, als sie im letzten Sommer gemeinsam zum Badesee gefahren waren. Es war ein heißer aber ansonsten eigentlich kein besonderer Tag gewesen. Doch als sie auf der Rückfahrt in der stickigen, überfüllten U-Bahn gestanden hatten, die Schweißflecken am Rücken und unter den Armen wuchsen und Ramon sich nur noch gewünscht hatte, endlich zu Hause unter der Dusche zu stehen, hatte Jules ihn plötzlich fröhlich angeschaut und ihm vergnügt zugerufen: „Ahh, pures Leben!" Die Situation, so alltäglich und unbedeutend sie gewesen sein mochte, hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Er hatte immer wieder an sie denken müssen und so war sie zu einem Teil der Erinnerung an seinen Bruder gewachsen.

GhostsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt