Es klingelte. Max Wirtz hatte schon seit einigen Minuten gewartet und hatte sich nur leidlich von seiner Ungeduld ablenken können, indem er einige Papiere und Schreiben wegsortiert hatte, die im Stress der Woche liegen geblieben waren. Mit einem herzlichen Lächeln begrüßte er nun seinen Gast. Eleonora hatte wohl einen Geschäftstermin gehabt, obwohl Samstag war. Sie trug einen eleganten, dunkelgrauen Anzug und wie immer eine Krawatte, an der eine silberne Nadel blinkte. In seinem beigen Freizeitsacko kam Max sich unbeholfen vor, doch er schluckte das Gefühl herunter und bat sie in das sorgfältig eingerichtete Wohnzimmer. Designerleuchten, schlichte, stilvolle Möbelstücke, der glänzend polierte Flügel, zwei dezente Kunstwerke von namhaften Künstlern – immerhin seine Wohnung konnte sich sehen lassen.
Eleonora schaute sich interessiert um und blieb bald an den Bildern hängen. Max erzählte ihr gerne die Geschichte, wie er die beiden auf einer Kunstausstellung in Wien entdeckt hatte und sie ihm gleich gefallen hatten. Er hatte sich ein paar Artikel über den Künstler durchgelesen, die ihn als talentierten abstrakten Maler charakterisierten. Besonders gefallen hatte Max, dass der Künstler, ein Spanier, nur schwarze und weiße Farbe in seinen Bildern verwendete, um seine Sehnsucht nach absoluten Wahrheiten in einer sich ständig ändernden Welt auszudrücken. Eleonora nickte anerkennend. Dann setzten sie sich und Max schenkte einen Champagner ein. Der Wein war perfekt temperiert und perlte sprudelnd im Kelch – Max hatte den Abend gut vorbereitet, so wie er generell alles was seine Karriere betraf genau plante. Und dieser Abend betraf seine Karriere besonders.
Es stand ein großer Deal im Raum, sehr wahrscheinlich der größte, den die Energiebranche seit Jahren gesehen hatte. Einer der großen Ölkonzerne könnte übernommen werden. Es gab zwar noch keine offiziellen Äußerungen dazu, aber auf den Fluren der großen Investmentbanken kursierten schon seit Wochen Gerüchte. Der Aktienkurs der Firma hatte sich bereits seit einiger Zeit schlechter entwickelt als die Kurse der Wettbewerber. Nach allen Multiples war die Firma unterbewertet. Das Management hatte wohl zu lange auf das Ölgeschäft gesetzt und zu spät begonnen, in erneuerbare Energien zu investieren, sodass die Aktionäre das Vertrauen verloren hatten. Angeheizt von Spekulationen in der Presse über eine mögliche Übernahme hatten nun wohl einige der Öl-Riesen tatsächlich begonnen, eine solche Übernahme zu prüfen. Das passierte zwar noch hinter verschlossenen Türen, doch die Banker waren gut vernetzt und die Neuigkeit war zu spektakulär als dass sie irgendjemand lange für sich behalten hätte. Sollte es tatsächlich zu einem Unternehmensverkauf kommen wäre die Transaktion so groß, dass seine Bank mit Sicherheit daran beteiligt sein würde, auf Käufer oder Verkäuferseite, vielleicht sogar auf beiden.
Max war Vice President, einer von dreien im Energiebereich seiner Investmentbank und Eleonora würde als Managing Partner für diese Transaktion verantwortlich sein. Sie arbeitete seit über 25 Jahren in der Ölbranche, ging mit den Top-Managern der großen Firmen golfen und hatte alle größeren Deals der letzten Jahre betreut. Sie würde entscheiden, welchem der aufstrebenden Vice Presidents die Hauptrolle bei dieser Übernahme zukommen würde. Jeder würde über diese Transaktion sprechen und wenn sie erfolgreich verlief würde derjenige, der sie betreut hatte als High Achiever dastehen. Und Marius wollte sichergehen, dass sein Name ganz oben auf der Liste stand. Daher hatte er Eleonora zum Abendessen eingeladen.
Er hatte sich einige provokante Thesen zur Entwicklung der Energiemärkte überlegt, die er mit ihr diskutieren wollte, um ihr zu zeigen, dass er strategisch und weitsichtig dachte. Aber noch wichtiger war es, interessant und außergewöhnlich wahrgenommen zu werden. Menschen wie Eleonora waren den ganzen Tag von intelligenten Leuten umgeben. Sie führte so viele Gespräche und hatte die Herausforderungen und Entwicklungen ihrer Industrie so häufig diskutiert und so tief durchdrungen, dass sie einen sachkundigen Gesprächspartner zwar durchaus zu schätzen wusste, ihn aber kaum noch als herausragend in Erinnerung behalten würde.
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Ghosts
FantasyDrei Charaktere sind auf der Suche danach, was ihr Leben zu etwas Größerem macht. Jules Nourney erfährt nach seinem Tod, dass einige Seelen als Geister weiterleben. In Begleitung von zwei abenteuerlustigen Geisterfreunden versucht er die Frage zu lö...