2 Neue Begleiterin

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Es war stockdunkel um Jules. Er wusste nicht, wie lange er regungslos gelegen und seinen Gedanken nachgehangen hatte. Er erinnerte einen plötzlichen Schmerz, und dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Er hatte es versucht, doch der Schmerz hatte alles überstrahlt. Dann war der Schmerz plötzlich verschwunden und es war dunkel geworden. 

Er hatte Stimmen gehört, die aber nicht mit ihm zu sprechen schienen. Er hatte seinen Bruder über ihn sprechen gehört. Er musste geträumt haben, bis die Kirchenglocken in jäh aus seinem Schlaf gerissen hatten. 

Blinzelnd sah er in die Dunkelheit. Noch immer kein Licht. Wo war er? Er wollte aufstehen, doch irgendetwas war anders. Vorsichtig versuchte er seine Füße auf den Boden zu setzen, doch er spürte keinen Boden. Er spürte überhaupt nichts. Mit der Hand tastete er vorsichtig nach der Oberfläche, auf der er saß, doch da war nichts. Träumte er noch? 

Langsam stand er auf und horchte in seinen Körper hinein. Kein Schmerz. Kein Gefühl. Er kniff sich in den Arm. Immer noch kein Gefühl. Etwas erleichtert grinste er zu sich selbst. Er musste noch träumen. Er machte einige schwerelose Schritte. Auf einmal bemerkte er ein leichtes Schimmern neben ihm. Er drehte sich um. Ihm gegenüber stand ein Mann in der Dunkelheit und sah ihn erstaunt an.

Der Mann war älter, er trug einen dichten, weißen Vollbart, der die hohen Wangenknochen dennoch nicht ganz verdecken konnte. Auch sein Haupthaar war vollständig weiß. Seine Kleidung sah seltsam altmodisch und dennoch nagelneu aus. Er trug ein weißes Hemd, darüber eine Weste aus braunem Stoff und einen offenen Mantel, der hinten bis zu seinen Kniekehlen ging. Seine Beine steckten in hohen Lederstiefeln. Seine Augen war tiefgründig und ernst. Auf eine sonderbare Weise war Jules sein Gesicht vertraut. Dann fiel es ihm ein. Das Bild auf dem Dachgeschoss. Vor ihm stand niemand anderes als Alastair Nourney.

Jules fühlte den Blick des alten Mannes auf sich, bis schließlich das Erstaunen zuerst einem zaghaften, dann einem herzlichen Lächeln wich.

„Jules Nourney.", sagte er in einem feierlichen, wenngleich etwas nachdenklichen Ton. „Was für eine außergewöhnliche Freude, dich kennen zu lernen. Ich bin Alastair Nourney."

„Ich weiß, wer du bist.", entgegnete Jules munter. „Ich frage mich eher, was du in meinem Traum machst." Alastair sagte lange nichts. Schließlich trat er in langsamen Schritten auf Jules zu und blieb direkt vor ihm stehen. Er legte seine Hände auf Jules' Schultern und sah ihm tief in die Augen.

„Das ist kein Traum, Jules Nourney. Du bist tot."

In Jules Kopf explodierten die Empfindungen. Immer noch wusste er nicht, wo er war, klammerte sich an den Gedanken, dass er gleich scheißgebadet aufwachen würde, dass er die Zähne putzen, den Traum vergessen und ein neuer Tag beginnen würde. Doch zugleich wusste er tief in sich drin sofort, dass der alte Mann die Wahrheit sagte. Seine Wahrnehmung war zu klar, zu kohärent, zu bewusst. Das hier war kein Traum. Fetzen von Ramons Rede drangen in sein Bewusstsein. ‚Jules ist von uns gegangen ... tragischer Tod ... glückliche Erinnerungen'. Tausend Fragen wirbelten durch Jules' Kopf. Er stellte die erste, die er greifen konnte:

„Wo sind wir?"

„In der Familiengruft der Nourneys. Du wurdest heute hier bestattet und hast bis eben in deinem Sarg gelegen." Alastair sah Jules die Fragen an, die ihm ins Gesicht geschrieben standen, doch er drängte ihn nicht.

„Wie bin ich gestorben?"

„Das kann ich dir leider nicht sagen. Ich habe in deiner Todesanzeige von deinem Tod erfahren, aber dort stand nichts Näheres. Nur, dass du letzten Donnerstag unerwartet verstorben bist."

„Im meiner Todesanzeige...", wiederholte Jules stockend. Bisher hatte er wenig Erfolg damit, durch seine Fragen mehr Klarheit in seine Situation zu bringen. Wieso las sein vor 350 Jahren verstorbener Vorfahre die Todesanzeigen? Dieses Mal kam Alastair ihm mit einer Erklärung zuvor.

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