Geister, Gespenster und...?

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Es dauert einige Minuten, bis ich Sophia all das berichtet habe, was ich kurz zuvor selbst von Mrs. Scott erfahren hatte. Während ich rede, hört mir die junge Frau schweigend zu. Der Blick ihrer grünen Augen ist ernst und nachdenklich. Erst als ich schließlich geendet habe, bricht Sophia zögerlich ihr Schweigen.
„Ich...gebe zu, das was du mir erzählt hast klingt tatsächlich nach einer Art Wesen. Nur bin ich mir nicht sicher, ob es sich dabei um einen Poltergeist oder aber ein Gespenst in einer anderen Form handelt."
Daraufhin runzle ich verwirrt die Stirn.
„Wie meinst du das? Gibt es denn noch andere...Formen?"
Sophia lächelt sanft und streicht mit ihren Fingerspitzen liebevoll über meine Wange, bevor sie mir bedächtig antwortet.
„Lass es mich dir so erklären: Ich bin der klassische Inbegriff eines Geistes. Du kannst mich sehen wenn ich es möchte, zeitweise sogar berühren und wenn ich wieder verschwinden will, löse ich mich einfach vor deinen Augen in Luft auf. Was dir oft so gar nicht passt."
Ein freches Lächeln liegt auf Sophias Lippen und ich rolle bei ihrer letzten Anmerkung nur ergeben mit den Augen. Zum Glück fährt meine Freundin direkt fort.
„Geister sind also fähig sich selbst und ihr Handeln zu steuern. Die meisten Menschen würden sie als gut oder vernünftig beschreiben. Gespenster wiederum, darunter zählen auch Poltergeister und ihres gleichen, sind aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr Herr ihrer Selbst. Sie tauchen an allen möglichen Orten plötzlich auf und versetzen die Menschen um sie herum durch ihr gruseliges Auftreten und oft auch ihr unansehnliches Erscheinungsbild in Angst und Schrecken."
So weit kenne auch ich mich inzwischen mit Geistern und Gespenstern aus. Trotzdem habe ich immer noch zahllose Fragen, die ich Sophia gerne stellen möchte.
„Welche Gründe gibt es denn, dass Geister ihre...Vernunft...verlieren und zu Gespenstern werden? Ist es nur die Entfernung von ihrem Sterbeort?", frage ich neugierig und sehe Sophia gespannt an. Die junge Frau überlegt einen Moment.
„Das ist wohl der häufigste Grund. Nimm dir Viktor als Beispiel. Er ist noch kein Gespenst aber er ist lange nicht mehr so klar und zurechnungsfähig wie ich. Viele Geister...besonders die unter uns, die schon sehr lange existieren...sie wollen frei sein. Nicht mehr gefangen in den Mauern ihres Hauses, das sie einengt, erdrückt und oft so schmerzliche Erinnerungen verbirgt. Diese Geister allerdings bezahlen ihren Freiheitsdrang mit einem hohen Preis...erst werden sie verwirrt, dann verrückt und dann begreifen sie ihre eigene Existenz nicht mehr. Sie irren ziellos auf dieser weiten Welt umher, bis sie irgendwann endlich sterben dürfen...Erinnerst du dich noch, als ich nach dem Grab meiner Eltern gesucht habe?"
Ich nicke schnell und spüre, wie alleine der Gedanke daran mir wieder eine unangenehme Gänsehaut über den Rücken laufen lässt.
„Ja. Ich hatte wahnsinnige Angst um dich!"
Sophia nickt andächtig und sieht mich aus ihren grünen Augen ernst an.
„Auch wenn ich es nicht gerne zugebe, diese Angst war berechtigt. Je weiter ich mich von St. Rednor entfernte, desto schwerfälliger wurden meine Gedanken. Es fühle sich an, als hätte sich ein dichter Nebel in meinem Kopf ausgebreitet, der alles in mir einhüllte und den ich nicht zu durchdringen vermochte. Und je länger ich dem Internat fernblieb, desto langsamer verzog sich der Nebel nach meiner Rückkunft wieder. Das war übrigens auch der Grund, weswegen ich damals nicht direkt zu dir kommen konnte, obwohl ich längst wieder auf St. Rednor eingetroffen war. Ich wollte nicht, dass du mich in diesem Zustand zu Gesicht bekommst."
Ein entschuldigendes Lächeln liegt auf Sophias vollen Lippen und ich seufze einmal tief auf.
„Stattdessen war ich tagelang krank vor Sorge um dich! Ich weiß wirklich nicht, ob ich dein verwirrtes Ich nicht doch vorgezogen hätte...", entgegne ich zweifelnd und lege behutsam beide Hände an Sophias warme Wangen.
„Glaube mir, das hättest du nicht. Du wärst vermutlich sehr schockiert gewesen", erwidert die junge Frau vor mir mit fester Stimme und schlingt gleichzeitig ihre Arme in einer flüssigen Bewegung um meine Hüfte. Ich bin meiner Freundin jetzt sehr nah. Und das ist auch gut so.
Schweigend beuge ich mich vor und gebe Sophia einen zärtlichen Kuss auf ihre weichen Lippen. Die Berührung dauert nur kurz, aber sie drückt mehr Gefühle aus, als ich es in diesem Moment mit Worten hätte tun können.
„...du wolltest mir noch von den Wesen erzählen?...", flüstere ich leise, nachdem ich mich widerstrebend von Sophia gelöst hatte, doch anstatt einer Antwort spüre ich augenblicklich wieder ihre warmen Lippen auf meinen. Lediglich ein unwilliges Brummen entweicht der Kehle meiner Freundin, das mir unmissverständlich zu verstehen gibt, das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Gespräche ist.
Einige Minuten lang sind wir so in einen innigen Kuss versunken, der bereits beginnt leidenschaftlich zu werden, als ich mich schließlich unter größter Anstrengung aus der aufgeheizten Situation befreien kann.
„...stopp-...stopp, Sophia! Liebling, wir müssen diese Unterhaltung wirklich fortsetzen! Außerdem haben wir später noch die ganze Nacht für uns", flüstere ich atemlos und mit rasendem Herzen, während ich der jungen Frau in meinen Armen bittend in ihre tiefgrünen Augen sehe. Sophia lässt augenblicklich von mir ab.
„Entschuldige Mary, ich habe mich mal wieder hinreißen lassen. Du machst es mir manchmal wirklich wahnsinnig schwer...", entschuldigt sich meine Freundin mit einem verlegenen Lächeln und küsst mich dann schnell aber nachdrücklich auf beide Wangen. In ihren Augen funkelt immer noch das Feuer, das sich auch schon in meinem Körper ausgebreitet hat. Normalerweise würde ich diesen Moment der Nähe und der Leidenschaft zwischen uns niemals willentlich unterbrechen, doch ich muss dringend mehr über die Vorkommnisse bei James Wadlow und Sophias Einschätzung dazu erfahren. Und ich weiß, dass Mrs. Scott diese Informationen so früh wie möglich braucht, um ihrem Freund zu helfen.
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Liebling. Wo waren wir stehen geblieben?"
„Ich wollte dich grade von deiner Bluse trennen", antwortet Sophia trocken. Doch sie kann sich ein amüsiertes Grinsen auf meinen gespielt bösen Blick daraufhin nicht verkneifen.
„Aber um nun endlich zum Kern meiner Aussage zu kommen: Nach allem was du mir erzählt hast könnte es sein, dass ein formloses Gespenst bei Mr. Wadlow haust. Das würde zumindest erklären, warum es ihm noch nie erschienen ist und nur durch Geräusche und wehleidiges Stöhnen auf sich aufmerksam macht."
Ich ziehe nur verwirrt eine Augenbraue nach oben.
„Ein formloses Gespenst?! Was soll das denn nun wieder sein?"
„Ehrlich gesagt hoffe ich für den Freund unserer guten Mrs. Scott, dass ich mich irre. Ein formloses Gespenst ist ein Poltergeist, der bereits so verloren und vernebelt ist, dass er nicht mehr in der Lage ist, in seine körperliche Form zu wechseln, egal ob bewusst oder unbewusst. Wenn du mich fragst, ist das die schlimmste Art der Existenz, die einem Geist widerfahren kann. Und um Mrs. Scotts Frage zu beantworten: Ich wüsste nicht, wie man mit so einem Wesen kommunizieren könnte, um es zum gehen aufzufordern. Bei einem normalen Poltergeist wäre das schon eine äußerst knifflige Aufgabe, aber so...unmöglich. Es bleibt also zu hoffen, dass es sich bei Mr. Wadlow wirklich um ein Gespenst handelt und dass sich dieses Gespenst irgendwann einmal zeigt. Und wenn es das tut...dann könnte er versuchen mit ihm zu reden...um es dann verscheuchen zu können."
Als Sophia geendet hat, zuckt sie nur ratlos mit den Schultern. Ich jedoch sehe sie mit großen Augen an.
„Man kann einen Poltergeist unter Umständen also loswerden? Wie?"
„Indem du herausbekommst, wovor er sich fürchtet. Mich zum Beispiel könntest du durch hunderte Kerzen im ganzen Haus verjagen...", hilft mir Sophia sanft auf die Sprünge und ich verstehe sofort. Instinktiv greife ich nach ihrer Hand und halte sie fest in meiner.
„Das heißt...man muss den Geist oder das Gespenst mit der Art seines Todes konfrontieren?", frage ich sicherheitshalber noch einmal nach.
„Wenn du es so pragmatisch ausdrücken willst...ja. Allerdings wirst du aus den wenigsten Poltergeistern noch ein verständliches Wort herausbringen, geschweige denn sie nach ihrem Ableben befragen können", wendet Sophia ernst ein und ich glaube ihr sofort.
„Warum...warum ist dieses Wesen oder dieses Gespenst überhaupt bei Mr. Wadlow aufgetaucht? So ganz plötzlich?"
Als ich das frage, zuckt Sophia erneut mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht. Diese verlorenen Seelen irren ziellos umher...warum sie sich dazu entscheiden, plötzlich an einem Ort sesshaft zu werden, ist auch für mich ein Rätsel. Aber vielleicht sind sie auch am nächsten Tag schon wieder fort...das kann niemand sagen."
Ich nicke nur nachdenklich und senke dann langsam den Blick. Mein Daumen malt liebevoll kleine Kreise auf Sophias Handrücken. Für ein paar Minuten ist es still zwischen uns.
„Ich bin so froh, dass du bei klarem Verstand bist, Sophia. Denn ich liebe jedes winzige Bisschen davon", breche ich schließlich mit rauer Stimme das Schweigen. Beinahe sofort spüre ich Sophias warme Hand an meinem Kinn, die mein Gesicht sanft anhebt.
„Darf ich dich jetzt küssen? Bitte?"
Ein stummes Nicken genügt.
Den Rest der Nacht denke ich nicht mehr über Geister und Gespenster nach.
Und...Mrs. Scott wird sich wohl bis zum nächsten Morgen gedulden müssen.

Euch allen ein frohes und gesundes neues Jahr 2024!

1826 - Rückkehr auf St. RednorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt