"Aviana Callahan", rief ein Mann durch den vollen Saal. Ich erhob mich aus meinem Stuhl und ging so selbstbewusst wie möglich auf die Treppe zu, auch wenn ich dabei vermutlich kläglich versagte. Langsam stieg ich auf die Bühne, wobei mich jeder Schritt befreite, gleichzeitig aber eine Last war. Mein festliches Kleid saß perfekt. Der cremefarbene Stoff fühlte sich geschmeidig und leicht an und durch die Länge bis zum Knie schwitzte ich in dem heißen, vollgestopften Raum nicht. Meine Mutter hatte gesagt, dass die Farbe des Kleides perfekt zu meinen haselnussbraunen Augen passte. Sie behauptete einen Hauch von rosa in ihnen entdecken zu können, aber ich hatte ihr nie geglaubt. Ich hatte stundenlang vor dem Spiegel verbracht, um diese Farbe in meinen Augen zu finden, fand aber nichts. Meine Mutter wollte mich dadurch vermutlich nur besonders aussehen lassen, wie es jede Mutter wollte.
Der Abschied von meinen Eltern heute Morgen war mir leichter als gedacht gefallen. Wir hatten uns alle fest in die Arme geschlossen und uns gegenseitig gesagt wie lieb wir uns hatten. Ich würde sie vermutlich erst wieder vor einem Grabstein unter der Erde sehen.
Meine flachen sandalenähnlichen Schuhe waren passend und bequem, mein braunes Haar wunderschön hochgesteckt und dezentes Make-up perfektionierte meinen Look. Heute war es soweit: Meine Verlobung.
Auf jeden Schritt achtend ging ich auf den Herrn am Mikrofon zu und zwang mich zu einem höflichen Lächeln. Meine Fingerspitzen strichen nervös über die Narbe an meinem Unterarm. Ein Bild blitze vor meinem inneren Auge auf, auf dem ich zusammengekauert auf dem Küchenboden lag, das scharfe Messer neben mir. Damals hatte ich mich mit fünf Jahren geschnitten, als ich versucht hatte eigenständig Brot zu schneiden. Die Wunde war verheilt, aber die Narbe würde mich immer an diesen kleinen Zwischenfall erinnern.
Der Mann auf der Bühne begrüßte mich breit grinsend, wobei sein weißer, zurechtgestutzter Bart und seine pummelige Figur in gewisser Weise an den Weihnachtsmann erinnerten. Wie oft ich mir gewünscht hatte, dass er noch erlaubt war. Der Weihnachtsmann vor mir deutete auf eine Tür hinter ihm und zeigte bei seinem Lächeln seine strahlend weißen Zähne.
"Tür 6", wies er an und wandte sich wieder der Menge im Saal zu. Einen kurzen Augenblick merkte ich, wie nervös der Mann sein musste. Vor so vielen Leuten stehen, reden und sich die Nervosität nicht anmerken lassen wäre zu viel für mich gewesen. Ich war froh nicht die ganze Zeremonie über hier stehen zu müssen, denn ich konnte noch nie vor einer großen Ansammlung von Leuten fehlerfrei reden. Ich blickte kurz in die große Menge vor mir, die aus Mädchen in meinem Alter bestand, die allesamt das gleiche wie ich trugen. Ich versuchte May in der riesigen Ansammlung ausfindig zu machen, jedoch vergebens.
Ich drehte mich nach einigen Sekunden in Richtung des Bühnenhintergrundes und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Mit jedem Schritt wurden meine Knie weicher und meine Hände zittriger. Ich war nur noch wenige Sekunden davon entfernt meinen Lebenspartner kennen zu lernen. An einer gewöhnlichen Holztür prangte die Zahl "6" groß und golden hervor. Meine Finger umschlossen den kühlen Türgriff und drückten ihn hinunter. Es knarrte nicht, als ich sie öffnete, stattdessen ging sie geschmeidig und leise auf. Der Raum war stockfinster und ich konnte nichts erkennen. Meine Finger glitten über die raue Wand, um nach einem Schalter zu suchen, fanden aber nichts.
Plötzlich wurde der Raum erhellt. Gleisendes Licht blendete mich und ich hob schützend eine Hand vor meine Augen, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Sofort schloss ich die Tür, da ich diesen besonderen Moment nur für uns haben wollte. Ich hatte eine Person in diesem Raum erwartet. Eine Person mit einem Lächeln auf den Lippen und Nervosität in den Augen, die verschwand, wenn sie mich erblickte.
Stattdessen saßen dort vier Personen um einen kleinen, hölzernen Tisch. Drei Männer und eine Frau. Alle waren in Schwarz gekleidet und ihre Gesichter waren mit Dreck verschmiert. Ihr dunkles Gewand passte überhaupt nicht zum weißen, kleinen Raum. Einer der Männer trommelte ungeduldig mit den Fingern am Tisch und die Frau wippte mit ihrem Fuß hin und her, als wäre sie in Eile.
"B-bin ich hier falsch?", stotterte ich. Die vier fremden Personen starrten mich lange an. Ihre Blicke durchbohrten mich beinahe und die ganze Situation wurde mir unangenehm. Gerade wollte ich die Tür aufmachen und von hier weg, als sich einer der Männer erhob.
"Du wirst mit uns mitkommen", erklärte er mir freundlich mit rauer Stimme.
Völlig perplex stand ich da, meine Hand ruhte noch auf der Klinke, als ich dem Mann fest in die Augen sah. Er starrte mich mit seinen grasgrünen Augen kühl und entschlossen an. Lange hielt ich dem intensiven Blickkontakt nicht stand, weshalb ich nach kurzer Zeit wegsah. Seine Ausstrahlung war stark und selbstbewusst, das Gegenteil von meiner.
"Ich gehe nirgendwo mit euch hin", erklärte ich ihm und erntete dabei Augenrollen von allen Vieren.
"Das haben wir bereits erwartet. Du kommst mit, ob du willst oder nicht", drohte er mir. Ich drehte mich zur Tür, drückte die Klinke nach unten und wollte aus dem Raum stürmen, als sie vor meiner Nase zugeschlagen wurde. Einer der anderen Männer, der etwa in meinem Alter schien, sah wütend auf mich herab.
"Jetzt stell dich doch nicht so an", brüllte er, wobei er versuchte ruhig zu bleiben. Seine Stimme deutete auf Wut, doch seine Augen zeigten Trauer.
"Sonst was?", fragte ich spöttisch. Das war ein Fehler gewesen, denn er packte mich und warf mich achtlos über seine Schulter.
"Lass mich runter!", schrie ich und hämmerte dabei so fest wie möglich auf seinen muskulösen Rücken, was ihn nicht zu beeindrucken schien. Ich spürte einen leichten Pieck in meinem Hals. Schnell richtete ich mich auf und sah, wie die Frau eine Spritze in der Hand hielt. Meine Augenlider wurden schwerer und das Zappeln immer anstrengender.
"Keine Sorge. Dadurch wirst du nur schlafen. Bald wachst du wieder auf", versuchte sie mich mit ihrer lieblichen Stimme zu beruhigen. Ihre letzten Worte klangen bereits weit weg, als ich wegdriftete und bewusstlos wurde.
DU LIEST GERADE
Oblivious
Fiksi IlmiahErinnerungen sind der Bestandteil unserer selbst, die uns zu dem machen, was wir heute sind. Doch wie verhält man sich, wenn sie einem mit Gewalt entrissen werden? ~ Das Jahr 2141. Die 18-jährige Luna Hollister lebt in einer scheinbar perfekten Welt...