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Ich blickte auf, noch immer ergriffen von den Nachwirkungen dieser Erinnerung. Es schien so unendlich lange her zusein, dabei ist das alles erst vor zwei Monaten geschehen. Danach hatte ich mich mehrmals um ein weiteres Gespräch mit Nero bemüht. Er sollte mir sagen, was er damit gemeint hatte, als er sagte ich wäre der Grund dafür gewesen, dass seine Empfindungen sich geändert hatten. Ich wollte wissen, was ich falsch gemacht hatte. Zumindest das hatte ich verdient. Jeder Versuch war dennoch gescheitert, Neros Freunde hielten sich aus der Angelegenheit raus, sodass auch die Chance, etwas durch sie zu erfahren, eher gering ausgefallen war. Vor allem, weil Nero keinem von ihnen wirklich nahestand. Das hatte er mir einmal verraten, als wir etwa ein Jahr zusammen gewesen waren. Er sagte mir, wie oberflächlich die Welt doch manchmal wäre und dasser von Herzen dankbar dafür war, mich gefunden zu haben, weil das, was zwischen uns war ihm zeigte, dass es nicht immer so sein musste, dass es Hoffnung gab.

Doch wenn er am Ende nicht einmal mehr mit mir über das, was in ihm vorging reden konnte, bezweifelte ich, dass er sich stattdessen einem von seinen Kumpeln anvertraut hatte. Also hatte ich seine Entscheidung irgendwann akzeptiert, damit ich mich nicht am Ende auch noch selbst verlor. Ich lenkte mich ab, ließ mich von meinen Freunden mit allem, was ihnen einfiel aufmuntern, tanzte wieder mehr, probte die Songs der Band, bis sie in Dauerschleife durch meinen Kopf summten und versuchte diese Leere, die entstanden war, die neue Zeit, möglichst bis zur letzten Sekunde aufzufüllen. Damit ich nicht denken musste.

In der Schule gelang mir das am Ende sogar besser als ich gedacht hatte, in den gemeinsamen Unterrichtsstunden wurde Nero für mich allmählich immer belangloser, bloß ein weiterer Mitschüler, ein flüchtiger Bekannter, selbst wenn das völlig verrückt war.

Abschließen hatte ich dennoch nie gut gekonnt, aber mir war klar, dass ich es eines Tages tun müsste. Nicht sofort, aber irgendwann, wenn es nicht mehr so frisch wäre.

Heute wollte ich einen weiteren Schritt in diese Richtung tun, durch die Hölle der Vergangenheit gehen, um danach wieder ein Stück freier zu sein.

Ich atmete tief durch, schaute mich zum ersten Mal genauer in dem Raum um, den uns der Besitzer des Thirteen Miles Clubs als Backstagebereich zur Verfügung gestellt hatte. Als wir vor etwa einer Stunde hier angekommen waren, hatten die Jungs sich zuerst darum gekümmert, die Instrumente aus unserem offiziellen Bandauto zu laden - ein dunkelblauer VW-Bus, den uns der Cousin unseres Gitarristen Jake, der eine Autowerkstatt mit Verleih betreibt, zu unserem dreijährigen Bestehen geschenkt hatte - während ich mich hier mental auf den heutigen Auftritt vorbereitete und mitd er Entscheidung rang, ob es klug war, Neros Lied in aller Öffentlichkeit zu singen. Es könnte mich mit nur einem Vers, der in meinem Kopf eine schmerzhafte Erinnerung hervorrufen würde, direkt wieder in mein Liebeskummerloch zurückwerfen, aus dem ich erst vor wenigen Wochen fast vollends herausgeklettert war. Entweder das oder es half mir, weiterhin stärker zu werden.

Ich bedachte meine Reflektion im Spiegel, der auf einer dunkelgrünen Kommode stand, mit einem fragenden Ausdruck in den Augen. Blickte die runden Glühbirnen an, die ihn umrahmten. Sie warfen als Antwort jedoch bloß ein schummrig gelbliches Licht in das Zimmer, was die pfirsichfarbenen Wände stärker zur Geltung brachte und eine wohlige Atmosphäre schaffte, unterstützt von einer bunten Wechsellampe mit feinen Wedeln, die auf dem Schränkchen an der Wand neben der Tür thronte und Lichtstreifen aussandte.

Meine Pupillen folgten den zarten Strahlen füreinen Augenblick. Sie waren wie jene der Sonne, die an trüben Tagendurch die Wolken dringen und kleine Lichtblicke ins Dunkel bringen. In ihnen entdeckte ich den anspornenden Wink. Unser Konzert heute sollte ein weiterer Hoffnungsschimmer in meinem Leben sein. Neben Neros Stück gab es so viele andere, die mir etwas bedeuteten, mir die Flügel verliehen, die seine Worte verloren hatten, mich gemeinsam mit meiner Band unseren Traum leben ließen, dass ich es wagen sollte. Es würde niemals gleich sein, keinesfalls, aber das Gefühl wäre ebenfalls stark und schön und wunderbar, sodass es mich tragen könnte, anders aber da.

Die Trauer muss endlich ein Ende finden! , redete ich mir innerlich gut zu, ballte eine Hand zur Faust und hielt meinen Entschluss fest. Ich hatte mir selbst genug Zeit gewährt, um die Welt für eine gewisse Dauer auszusperren, hatte genug Abende damit verbracht, Out of reach in Dauerschleife zu hören undgleichzeitig darüber nachzudenken, an welchem Punkt Nero mir entglitten war.

Die schlimmste Phase habe ich bereits überlebt, heute hätte ich die Gelegenheit, für mich einen Schlussstrich zuziehen, um frei von meinen schweren Ketten zu sein. Einen von vielen und womöglich wird er brüchig sein, aber es wird sein Zeichen setzen.

Nero wird immer in deinem Herzen sein, aber er ist nicht dein Leben. Das war ein Satz meines Bruders Nate, der mich oft durch die Gedanken streifte, es noch tut. In dir steckt so viel mehr...

Und ich weiß, dass er damit vermutlich richtig lag. Nur wollten ein Teil meiner Gefühle das lange nicht einsehen. Drei Jahre vergisst niemand leicht.

Ein Quietschen, das hinter mir erklang, ließ mich leicht zucken, holte mich aus meinen Gedanken. Die Tür zum Raum öffnete sich und Erik erschien im Türrahmen. Seine zimtfarbenen Haare standen ihm wie immer wirr vom Kopf ab und ragten am Halsleicht über den Kragen des dunkelblau-weiß karierten Flanellhemdes, das er offen trug. Darunter schmiegte sich ein schwarzes Bandshirt mit weißen Symbolen an seinen drahtigen, sportlichen Körper. So, wie der Spiegel uns beide in dieser Sekunde darstellte, wirkt es fast wie eine Photographie. Und dieser Anblick war mir so vertraut, dass er mir noch ein kleines bisschen mehr Mut stiftete.

„He", murmelte Erik und schenkte mir ein freundliches schiefes Lächeln.

„He."

Er fuhr sich mit einer Hand leicht durch seinen Pony, das ihm zu tief ins linke Auge fiel, dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder vollständig mir.

„Bist du bereit?"

Er reichte mir diese Frage vorsichtig, gab mirdamit eine Chance. Unwillkürlich kam mir eine Szene in einem Helikopter in den Kopf. Durch die offene Schiebetür im hinteren Teil strömte eisiger Wind von draußen ins Innere, den ich in meiner Vorstellung fast so spüren konnte, als würde er tatsächlich existieren. Und im Cockpit loderte ein Feuer, das sich langsam aber sicher durch die Mechanik fraß. Ich musste mich entscheiden. Es gab nur zwei Möglichkeiten. In scheinbarer Sicherheit bleiben oder springen. Und mir war klar, dass niemand es mir übel nehmen würde, wenn ich mich trotz allem doch zurückzöge. Außer mir selbst. Denn ich wusste auch, dass der Helikopter eigentlich gar nicht mehr da war, dass ich ihn mir nur noch erträumte und dann war da der Brand. Wenn ich noch zu lange blieb, würde er abstürzen und mich mit in die Tiefe ziehen. Das Wrack meiner verflossenen Beziehung, zu der es niemals ein Zurück gäbe. Also sollte ich auch nicht weiter daran festhalten, sondern an der Gewissheit, dass nichts mir je meine schönen Erinnerungen nehmen konnte. Sie gehörten mir für immer.

Erik räusperte sich, grinste schweigend in sich hinein, aber ich wusste, was er dachte. Ich war eben eine hoffnungslose Tagträumerin.

Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel, schaute mir selbst in die Augen, deren Dunkelblau in dem schummrigen Licht fast schwarz wirkte und wusste, dass ich es schaffen würde. Anstatt Erik zu antworten, stand ich anschließend von meinem Platz auf und drehte mich zu ihm um, ging auf ihn zu. Mit jedem Schritt, den ich mich unserem Gitarristen näherte, wurde ein Stück meiner Angst von dem berauschenden Gefühl ersetzt, das sich vor jedem unserer Auftritte in mir breit machte und mich unter Strom setzte. Als ich bei Erik ankam, streckte ich ihm meine rechte Hand entgegen, den kleinen Finger von der geschlossenen Faust gespreizt.

„Dann, wenn du es bist", entgegnete ichselbstsicher.

Er legt den Kopf schief.

„Und du bist dir sicher?"

Zögerlich verhakte er seinen Finger in meinem.

Ich nickte.

Jetzt oder nie.

Bevor wir gehen, schalteten wir die Lampen aus. Danach spendete nur noch ein einsamer Lichterschlauch Helligkeit. Die bunten Streifen an den Wänden waren verschwunden. Jetzt müsste ich selbst die Strahlen der Hoffnung neu erleuchten lassen. Hoffnung auf ein besseres Morgen.

Relation - The Story of a BandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt