I. Ein Morgen wie (k)ein anderer

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Als ich meine Augen aufschlug, war es noch dunkel. Dennoch konnte ich durch das Fenster leise den Frühverkehr hören. Vielleicht war es fünf Uhr. Zumindest betete ich zum Universum, dass ich endlich einmal länger als vier Stunden geschlafen hatte.

Seufzend fuhr ich mit der Hand über meine Augen und hoffte, dass das Schweregefühl langsam abnahm – was natürlich nicht passieren würde.

Seit Charlys Unfall waren knapp zwei Wochen vergangen. Es sah...nicht gut aus. Aber besser als noch zu Beginn. Die Brüche und Quetschungen waren mittlerweile die kleinste Sorge, viel schlimmer war das schwere Schädel-Hirn-Trauma, das laut den Ärzten langwierige Folgen haben könnte. Erst vor drei Tagen kam es wieder zu Blutungen und zu einer erneuten Not-OP. Sie hatten ihn nun ins künstliche Koma versetzt, was mich auf seltsame Art und Weise beruhigte. So musste er seine Verletzungen wenigstens nicht bewusst spüren.

Ich merkte, wie der Gedanke an meinen Zwilling mich unruhig machte und die Brust zuschnürte. Den aufkommenden Kloß versuchte ich runterzuschlucken.

Beruhigen. Ich sollte mich beruhigen.

Automatisch rutschte meine Hand auf meinen Bauch, der langsam aber sicher eine kleine Wölbung bekam. Mit dem Gedanken an das Baby drehte ich mich unter der Decke um und rutschte näher an Jesper ran.

Er lag auf dem Bauch, das Gesicht von mir weggedreht. Die leichten Auf-und-ab-Bewegungen seines Rückens verrieten mir, dass er noch tief und fest schlief. Ohne ihn zu wecken, kuschelte ich mich an seine Seite. Den Arm um seine Taille und das linke Bein über seine Hüften drückte ich meine Nase in sein Shirt. Es roch so gut nach Jesper, dass es nach einiger Zeit den Knoten in der Brust löste und ich wieder frei atmen konnte.

Jesper gab mir im Augenblick die Kraft, jeden Tag aufs Neue aufzustehen. Er versuchte nicht, mich ständig aufzuheitern oder die Situation gar schön zu reden, aber er war hier; hier bei mir und dem Baby. Fürs Erste war ich sogar zu ihm gezogen, da ich es in meiner und Charlys Wohnung alleine nicht ausgehalten hatte. Derweil wohnen meine Eltern dort, die für meinen Bruder in Santa Barbara alles stehen und liegen gelassen hatten, um näher bei ihm sein zu können.

„Wieder wach, Liebling?", kam es dann vernuschelt aus dem Nichts. Ich hatte nicht gemerkt, dass Jesper wach war.

„Tut mir leid, falls ich dich geweckt habe."

Lediglich ein verneinendes Brummen ertönte, ehe er das Gesicht zu mir drehte und ich seinen Atem auf den Haaren spüren konnte. Den Arm, den er zuvor unter dem Kopfkissen vergraben hatte, legte er liebevoll um mich und drückte meinen Körper näher zu sich. Der zarte Kuss auf meine Stirn, der folgte, hinterließ eine Wärme, die mich aufseufzen ließ.

Seine Lippen blieben auf der Stelle, als er müde fragte: „Willst du aufstehen? Ich kann dir einen Tee und mir einen Kaffee machen."

Ich deutete ein Kopfschütteln an, legte meinen Kopf in den Nacken und platzierte einen leichten Kuss auf seinem Kinn. Der leichte Bart kratzte.

„Schlaf du noch weiter." Schweren Herzens drückte ich mich von ihm und der Matratze, ehe ich aus dem Bett stieg. Jesper war vermutlich in derselben Sekunde wieder eingenickt.

In der Küche holte ich in erster Linie die Kaffee-Kapseln aus der Schublade und legte sie in die Kaffeemaschine ein – ein bisschen Vorarbeit für den Morgenmuffel im Schlafzimmer. Mir stellte ich dann Wasser für meinen Kamillentee auf.

Es war irgendwie beängstigend, wie rasch man sich an eine neue Umgebung gewöhnen konnte. Ich suchte nicht mehr in den Wandschränken nach den Tassen, sondern wusste, dass sie direkt über der Kaffeemaschine gelagert waren. Teller waren direkt über der Spüle und das Besteck in der Schublade gleich links vom Kühlschrank. Tatsächlich war es ein Wunder, dass Jesper noch so viele Utensilien hier hatte; immerhin war das Meiste bereits in seiner neuen Wohnung in Chicago.

Mit meiner heißen Tasse Tee in der Hand setzte ich mich auf einen Campingstuhl, der mit einem weiteren mitten im leeren Wohnzimmer stand. Auch wenn es gemütlicher war, als es aussah, vermisste ich Jespers Sofa. Das waren dann die Momente, in denen mir schwer bewusst wurde, dass er hier eigentlich nicht mehr wohnte.

Ich unterdrückte ein Seufzen.

In der Stille war es schwierig, an nichts zu denken. Die Gedanken schwirrten regelrecht um Charly, seinen Zustand und wie es weitergehen würde. Die Angst vor der Zukunft wurde nicht weniger und ich hatte bereits vor einigen Tagen beschlossen, dass ich nicht nur Däumchen drehend auf Neuigkeiten von der Polizei warten würde. Denn wenn Berry, wie Jesper vermutete, irgendwie in den Unfall verwickelt war, dann...

Wie von selbst strichen meine Finger über meinen Bauch. Ich musste uns schützen. Irgendwie.

Im nächsten Augenblick öffnete sich leise die Schlafzimmertür und Jesper schlürfte mit wilden Haaren und müden Augen zu mir. Sofort entspannte ich mich und streckte die freie Hand nach ihm aus – die andere stellte die nur noch lauwarme Tasse neben dem Campingstuhl auf den Boden ab.

Mit einem leichten Lächeln verschränkte er die Finger mit meinen und zog mich zu sich in eine wohlig warme Umarmung. Ich liebte es, dass er steten Körperkontakt zu mir suchte.

„Komm ins Bett. Den Tee kannst du mitnehmen."

An ihn gedrückt, brummte ich zustimmend, bewegte mich aber keinen Millimeter.

Ich konnte sein Schmunzeln praktisch hören, als er meinte: „Tatsächlich müssten wir uns dafür in eine Richtung manövrieren."

„Oder", begann ich. „wir gehen duschen und machen uns ein ausgiebiges Frühstück. Es dämmert ja schon und dann hätten wir auch noch ein bisschen Zeit, bevor wir uns auf den Weg machen."

Jesper drückte sich leicht von mir weg. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er mich. „Mit ‚wir gehen duschen' meinst du-"

„Du weißt ganz genau, wie ich es meine."

Und plötzlich schienen seine müden Augen voller Energie zu sein, ehe er mich – völlig unvorbereitet – an den Oberschenkeln hochhob und uns ins Badezimmer brachte. Sofort schlang ich meine Arme um seinen Hals und konnte mir ein freudiges Lachen nicht verkneifen.

Dieser Augenblick mit ihm war einer von wenigen, die mich vor einem tiefen Loch bewahrten.

Until ForeverWo Geschichten leben. Entdecke jetzt