Auserwählt

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Aua! Was ist das? Ich rutsche hin und her, weil sich mir etwas in die Hüfte bohrt und trete dabei mit dem Fuß gegen etwas Hartes.
"Aua!" Genau. Aber das kam nicht von mir. Jetzt versuche ich es mit umdrehen und treffe dabei mit dem Ellenbogen auf etwas Weiches.
"Hmpf!" Okay, Zeit, die Augen zu öffnen und sich der Realität zu stellen. Keine leichte Aufgabe, nach einer irren Motto-Silvester-Party, gefolgt von einem Mega-Rausch, der in einem gewaltigen Giga-Blackout endete.

Langsam öffne ich meine Augen und schaue zunächst auf die behaarte Brust eines Partygastes, dessen spitzes Knie in meine Richtung zeigt. Etwas tiefer entdecke ich einen dicken Kopf mit strubbeligen, lockigen schwarzen Haaren, der irgendwo zwischen meinen Füßen gelegen haben muss, bevor ich anfing mich zu bewegen. Vorsichtig setze ich mich auf, darum bemüht, meine Arme eng am Körper zu halten und niemanden hinter mir erneut zu attackieren. Meine Knochen beschweren sich viel weniger als erwartet, nach einer Nacht auf dem harten Boden. Verdammt, es ist lange her, dass ich mich zuletzt so abgeschossen habe und eingeschlafen bin.

Als ich mich vorsichtig umsehe, bietet sich mir ein Bild wie nach einer Schlacht. überall liegen Körper herum, als wäre eine Bombe eingeschlagen und hätte uns alle gleichzeitig ausgeknockt. Und wenn ich mich richtig erinnere, ist genau sowas passiert. Allerdings bestand die Bombe aus einem Gebräu, das irgendwer in einem kleinen Hexenkessel auf einem Fondue-Gestell über einer kleinen Pfanne mit Brennpaste erhitzt und dann an uns ausgeschenkt hat. Der Trank war lecker, süffig, ging gut die Kehle hinab und dann ... nichts. Blackout.
Vorsichtig rapple ich mich auf und mache eine Bestandsaufnahme meines Körpers. Erstaunlicherweise schmerzt nichts. Nicht meine Knochen vom Liegen auf dem harten Boden, nicht mein Kopf vom übermäßigen Alkoholgenuss und auch nicht mein Magen aus demselben Grund. Vielleicht ist der Rausch noch nicht ganz vorbei und dämpft die Schmerzen. Eine Erinnerung steigt in mir auf, an jemanden, der noch einen Tropfen von irgendwas aus einer Pipette in den Topf fallen ließ, bevor wir davon kosteten. Eine Droge? Merkwürdigerweise kann ich mich nur jetzt an das Bild erinnern, aber es ist ungenau und ganz sicher nichts, was mir gestern Nacht aufgefallen ist. Sonst hätte ich niemals den ganzen Becher auf Ex gekippt.

Aufmerksam wandere ich durch die Reihen der Schnapsleichen, die sich langsam wieder regen und alle ähnlich verwirrt dreinblicken. Ich komme an dem scheinbar leeren Kessel vorbei, bis auf einen kleinen, klebrigen Rest am Grund, von dem ein bittersüßer Duft ausgeht und sich mit dem abgestandenen Gerüchen von schalem Bier und vergossenem Rotwein vermischt. Was mich jedoch mehr verwirrt, sind die farbigen Lichtstreifen, die mal straff langgezogen, mal wellenartig, von einigen Leuten um mich herum ausgehen, manche sogar miteinander verbinden und andernfalls wie abgeschnitten in einem nicht vorhandenen Luftzug umher wehen. Mein Versuch, nach einem besonders langen Band zu greifen, geht jedoch ins Leere und beweist, dass ich es hier eher mit einer Halluzination zu tun habe.

Endlich habe ich ein Fenster erreicht und öffne es, um den dringend benötigten Sauerstoff herein und den Party-Gestank hinauszulassen. Ein Windzug fegt sofort durch den ersten Spalt und wirbelt ein paar Chipskrümel über den Boden, das rote Band, das sich zwischen einem Pärchen erstreckt, wird von dem Hauch nicht berührt. Es wird jedoch kürzer mit jedem Schritt, den die beiden aufeinander zugehen, als sie sich zwischen all den Leuten wiederfinden.
Hallos, Drogen, anders kann es nicht sein.

Murmelnd erinnern wir uns an den gestrigen Abend. An die Hexentänze, die wir vollzogen haben, und die verdächtig nach dem üblichen, ausgelassenen Herumhüpfen zu schlechter Partymusik aussahen. An das Hexenbrett, das uns sagte, wir seien auserwählt, aber nicht, warum oder wofür.
"Wer hat die Planchette dieses Mal bewegt?", will meine Lieblingsperson wissen, die sich aus einer anderen Ecke des Raums zu mir ans Fenster gesellt hat. Wir sind seit Kindertagen ein Gespann und so eng befreundet, dass nichts zwischen uns kommen kann.
"Ich nicht!" Natürlich nicht. Ashley glaubt so sehr an diesen ganzen übernatürlichen Quatsch, dass ernsthafte Entrüstung in der Antwort mitschwingt. Keiner meldet sich als Verursacher, nur einer erklärt, dass seine Versuche von jemand anderem verhindert worden wären. Doch auch für diesen Gegendruck will keiner verantwortlich sein.

Stattdessen kommt eine andere Frage auf. Wie es aussieht, bin ich nicht die Einzige, die gesehen hat, wie jemand Tropfen in den Topf gegeben hat. Doch niemand kann sich an die Person erinnern oder sie beschreiben. "Ich glaub es war eine große Frau", sagt einer und "ich meine einen kleinen Mann gesehen zu haben" eine andere. Jemand behauptet sogar, es wäre ein Engel gewesen, mit Flügeln und so. Ich schaue mich nach diesem Jemand um und bin nicht überrascht, Ashley zu entdecken.
"Sieht noch jemand leuchtende Farblinien?", frage ich vorsichtig und ernte damit die unterschiedlichsten Reaktionen.
"Oh ja, neonleuchtende Auren in allen Farben", witzelt einer und ein anderer widerspricht theatralisch. "Im Gegenteil, im Moment sehe ich alles nur schwarz-weiß!" Nur die üblichen Verdächtigen in Sachen Albernheit, die hier den Mund aufreißen. Der Rest schüttelt den Kopf oder wirft mir besorgte Blicke zu. Lachend winke ich ab. 

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