Auf Zehenspitzen schlich ich mich aus dem Kinderzimmer heraus und schloss so geräuschlos wie möglich die Tür hinter mir. Erst dann wagte ich es, aufzuatmen.
Auch heute hatte der Einschlafprozess mal wieder ewig gedauert. Noah kam abends einfach nicht zur Ruhe. Zu aufgewühlt war er von dem Tag im Kindergarten. Eigentlich müsste ich ihn bereits um 17 Uhr hinlegen, weil er dann seinen Durchhänger hatte, was aber einfach nicht möglich war. Bis er dann tatsächlich ins Bett gehen konnte, war er meist schon wieder fit. Sein Tagesrhythmus passte absolut gar nicht zum normalen Tagesablauf, und ich wusste einfach nicht, wie ich dieses Problem lösen konnte. Mit meinem Latein war ich schon sehr lange am Ende.
Ich gönnte mir einen kurzen Moment, lehnte mich an die Tür und atmete einige Male tief ein und aus. Wie gern würde ich mich jetzt einfach aufs Sofa legen, die Füße unter die Wolldecke stecken und eine Serie gucken. Oder ein Buch lesen. Gott, ich hatte seit Ewigkeiten nichts mehr gelesen! Ich vermisste es so sehr!
Aber statt eines Buches wartete das Chaos in der Küche auf mich. Und der Berg Wäsche, der sich neben dem Sofa stapelte. Wenigstens konnte ich beim Wäsche zusammenlegen eine Serie nebenbei gucken.
Mit einem tiefen Seufzer gab ich mir einen Ruck und wandte mich der Küche zu, in der es aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Bevor ich startete, steckte ich mir meine Bluetooth-Kopfhörer ins Ohr und rief meinen Bruder zurück, dessen Anruf ich vor einer Stunde auf dem Handy gesehen hatte.
»Hey, Brüderchen.«
»Guten Abend, liebste Schwester«, begrüßte er mich mit überschwänglich guter Laune. »Wie geht es dir und meinem Lieblingsneffen? Ich hatte schon nicht mehr mit dir gerechnet. Hat er sich sehr gewehrt oder bist du eingeschlafen?«
»Uns geht es gut«, antwortete ich mit der üblichen Lüge, während ich die Spülmaschine öffnete, um sie ein- und auszuräumen. »Noah braucht im Moment sehr lange, bis er wirklich eingeschlafen ist. Das ist gerade etwas anstrengend.«
Ich musste selbst beinahe lachen, ob dieser Untertreibung. Es war nicht nur gerade anstrengend. Es war schon immer anstrengend gewesen. Jede Phase der Entwicklung, die Kinder durchmachten, barg ihre Herausforderungen. Manche Kinder und ihre Eltern machten das alles mit, ohne große Einschränkungen oder Konflikte. Aber bei uns hatte ich immer schon das Gefühl gehabt, dass wir alles mitnahmen. Die Drei-Monats-Koliken, die Stillverweigerung, das Fremdeln, die Autonomiephase in ihrer schlimmsten Ausprägung – einfach alles.
Vielleicht kam es mir nur so vor, weil ich allein da durchmusste. Aber das war eine Tatsache, die ich nicht ändern konnte und die ich meistens ganz weit in die hinterste Ecke meines Bewusstseins schob, um nur nicht darüber nachdenken zu müssen. Mein Gejammer half niemandem und interessierte in vielen Fällen auch niemanden. Ich hatte schon früh gelernt, dass auf die obligatorische Frage »Wie geht es dir« in den meisten Fällen keine ehrliche Antwort gewollt war. Und es war okay! Wir kamen schon klar! Wir hatten bisher jede Phase gemeistert, allein, Noah und ich! Ich war eine starke Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand. Außerdem hatte ich im Gegensatz zu vielen anderen Eltern durch mein Pädagogikstudium ein Grundwissen, das mir bei der Entwicklung meines eigenen Kindes sehr hilfreich war. Eine Ressource, die es mir einfacher machte ... oder machen sollte.
Ich schob die wirren Gedanken schnell beiseite, während mein Bruder die Zeit genutzt hatte und weitererzählte.
»Und? Wirst du kommen?«, fragte er mich plötzlich und ich erstarrte mit dem dreckigen Teller in der Hand, da ich keinerlei Ahnung hatte, wovon er sprach.
»Sorry, kannst du das nochmal wiederholen? Wohin?«
René stöhnte. »Du bist mit den Gedanken wieder ganz woanders, stimmt's? Ich rede von der Grillparty, die Kristin, Jörg und ich am Wochenende veranstalten wollen. Jörg hat Geburtstag und hat die Familie eingeladen. Also ein kleiner Kreis. Er will kein großes Aufhebens, aber gar nicht feiern lassen weder Kristin noch ich zu.«
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Dancing back to Life
RomanceDas Schicksal ist ein mieser Verräter. Diese Erfahrung muss auch Josephina Albert machen. Als alleinerziehende Mutter eines kleinen Kindes versucht sie mehr schlecht als recht, allen Anforderungen gerecht zu werden und verliert sich dabei mehr und m...