Müde rieb ich mir den Schlaf aus den Augen. Fröstelnd tappte ich barfuß auf die andere Seite meines Zimmers, du dem hölzernen Waschtisch. Die große Keramikkanne fühlte sich ganz kalt unter meinen Fingern an, während ich das Wasser in die dazu passende Schüssel goss. Wiederwillig wusch ich mir das Gesicht mit dem frischen Wasser und trocknete mich ab. Beim Kleiderschrank angekommen, nahm ich mir ein schlichtes, dunkelgrünes Wickelkleid heraus. Grüblerisch, womit ich denn heute mir meine Langeweile vertreiben könne, zog ich mein Nachtgewand aus und schlüpfte in mein Unterkleid, denn ich hatte keine Lust, mich in dem grünen Leinenkleid zu verkühlen. Die goldenen Herbsttage waren schon längst vorüber und hatten den kühlen Tagen Platz gemacht, die den Winter ankündigten. Fertig angezogen, kämmte ich noch schnell meine Haare. Freudig stellte ich fest, dass sie mittlerweile noch länger waren und mir bis zur Hüfte reichten. Auf meine Haare war ich ganz besonders stolz, da ich genau die gleiche Haarfarbe und Struktur wie die meiner Mutter habe. Wellig und sehr hell, in bestimmtem Licht fast schon weißlich fielen sie mir über die Schulter. Heute flocht ich sie mir einfach nur zu einem Zopf zusammen. Danach nahm ich noch einen dunklen Umhang aus dem Schrank und legte ihn über die Stuhllehne, um ihn später zu hohlen. Meine Tagesplanung bestand daraus, heute einen ausgedehnten Ausritt zu unternehmen. Mir stand heut nicht der Sinn danach, zu lesen oder mir die Zeit im Schloss zu vertreiben. Entschlossen durchquerte ich das Zimmer und trat auf den Gang, um mich zum Frühstück aufzumachen. Silas wartete bereits vor meiner Tür. 'Guten Morgen' murmelte ich noch ein wenig verschlafen. Er erwiderte es und gemeinsam machten wir uns auf zur Küche. Ich hatte vor einiger Zeit angefangen, mit Alma zu frühstücken, da ich nicht ständig alleine und nur mit Silas vor der Tür essen wollte.
An meinem Ziel angekommen, starrte ich verwirrt durch die Küche. Es herrschte schon reges Treiben, was mich nicht überraschte, aber zwischen all den Küchengehilfinnen wuselte keine Alma herum. Kurz bevor ich mich wieder umdrehen wollte, rief mir eine bekannte Stimme zu: 'Hier drüben sind wir.' Ich folgte der Stimme quer durch die Küche, wo ich aufpasste, niemandem durch den Weg zu laufen. Aber mein Versuch war sowieso umsonst, da Silas in meinem Rücken dafür sorgte, dass sie alle für einen Moment inne hielten und den Kopf vor ihm neigten. Dies ignorierend lief ich in die kleine angrenzende Stube. Das schummrige Licht der Morgendämmerung drang von den Küchenfenstern noch nicht ganz in das Zimmerchen, dafür standen aber ein paar Kerzen auf dem Tisch in der Mitte. Alma saß mir gegenüber, mit einem Kochbuch anstatt einem gefüllten Teller vor sich und rechts von ihr saß ein alter Mann. Gerade als ich dazu kam, hob die Köchin den Kopf und lächelte mir zu. 'Darf ich vorstellen, das ist Remi.' 'Freut mich, Remi', meinte ich. Aber er war scheinbar nicht allzu interessiert, denn nach einem kurzen grummeln, ohne seinen Kopf zu heben, bestrich er sein Brot weiter. Seine weißen kurzen Haare standen in alle Richtungen ab und sein braunes Leinenhemd war mit einigen schwarzen Schmierern überzogen. Ich setzte mich gegenüber von den beiden, nahm mir eine Scheibe Brot aus der Schüssel, um sie mit Marmelade zu bestreichen. Silas hinter mir ignorierte ich, er würde sich ja wohl selber den letzten freien Stuhl nehmen können. Erwachsen war er ja. Das Frühstück verlief größtenteils schweigend, da Alma damit beschäftigt war, Rezepte herauszuschreiben und Remi, wenn er nicht gerade aß, sich mit kleinen Bauteilen aus Metall auseinander zu setzen. Daraus baute er irgendeine handgroße Vorrichtung, die ich beim besten Willen nicht definieren konnte und zu fragen hatte ich keine Lust.
Fertig mit dem Frühstück, holte ich noch meinem Mantel vom Zimmer, wechselte mein Waschwasser aus und machte mich auf zum Pferdestall. Es hatte bestimmt fünf Monate Gedauert, bis ich herausfand, dass ich mir ein Pferd ausleihen und ausreiten durfte. Diese Möglichkeit hatte ich den Sommer über gerne genutzt, um alldem ein wenig zu entfliehen. Lasse, ein Stallbursche, wechselte gerade das Stroh. 'Guten Morgen, könnte ich mit Max ein wenig ausreiten?' rief ich ihm zu. Max war ein schwarzer Hengst, das einzige Pferd, mit dem ich mich anfreunden konnte. Sonderlich verbunden fühlte ich mich mit den Tieren nämlich nicht. Lasse nickte. Also begann ich, Max zu satteln und aus dem Stall zu führen. Verwundert stellte ich fest, dass Silas nirgends zu sehen war.
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Tyche
FantasyTyche / Ruhe vor dem Sturm; Tyche - Göttin des Schicksals, der glücklichen oder unglücklichen Fügung und des Zufalls. "Eine mir gänzlich unbekannte, tiefe Stimme erhob sich. Ich konnte ausmachen, dass er wüten war. Wie ein Fluch klang seine Stimme...