Kapitel eins: Cocoon

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Ein blauer Schimmer überzog meine Augenlider, und eine zarte Farbe von Rosa meine Lippen. Ich roch nach Zucker und schmeckte nach Kirschen, und trotzdem fühlte ich mich nicht richtig. Ich war angemalt und kostümiert, jedoch alles andere als ich selbst. Die anderen um mich herum, Jennifer, Michelle und Clara, schienen sich mächtig zu amüsieren, während ich mir das Pink von den Wangen wischte und sie heimlich durch den Spiegel, der vor mir stand, beobachtete.

Sie sahen so glücklich aus, so selbstbewusst und aufgeregt; keine von ihnen schien sich auch nur die kleinste Sorge zu machen. Sie waren hübsch, reif und auf dem Weg zu einer Party. Ich dagegen erkannte mich im Spiegel nicht wieder, war nervös und alles andere als reif. Ich war im Leben genauso weit wie ich es mit sechzehn Jahren war. Ich hatte noch immer keinen Führerschein, alle Universitäten im Umkreis von vierzig Kilometern hatten mich abgelehnt und von einem Freund konnte ich nur träumen. Ich gehörte einfach nicht dazu, und das betraf nicht nur andere Mädchen in meinem Alter, sondern das Leben insgesamt.

Während die anderen umzogen, sich verlobten oder wie meine Cousine Jennifer als Miss Texas gepriesen wurden, blieb ich wie eingefroren an derselben Stelle stehen und schaute dabei zu, wie das Leben an mir vorbeizog. Noch konnte ich bei meinen Eltern leben und mir ein bisschen Taschengeld dazu verdienen, indem ich der alten und gebrechlichen Mrs. Miller beim Haushalt half, doch ich war bereits neunzehn und ich würde das nicht für den Rest meines Lebens tun können. Spätestens wenn Mrs. Miller starb, stand ich ohne jegliches Geld da. Die Highschool war vorbei, ich hatte es anscheinend nur nie richtig mitbekommen.

"Worüber denkst du schon wieder nach?", fragte Jennifer und legte mir ihre Hände auf die Schultern. Selbst ihre Nägel waren perfekt lackiert. "Ich wette, sie denkt über Michael nach", mischte sich Michelle ein und machte eine obszöne Bewegung mit ihrer Zunge. Ich dachte natürlich nicht über Michael Phelps nach, noch weniger fantasierte ich über seine Zunge in meinem Rachen, ganz im Gegenteil. Der Gedanke daran ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Trotzdem ließ ich die anderen Mädchen glauben, dass ich schon seit der Highschool in Michael verliebt war und es ihm in dieser Nacht endlich klar machen würde. Ich war die einzige, die noch nicht ihren ersten Kuss, geschweige denn alles, was danach folgte, erlebt hatte. Ich war die Jungfrau der Gruppe. Neunzehn, pleite und Jungfrau, worauf man in diesem Alter nicht mehr wirklich stolz sein konnte. Ich fühlte mich hauptsächlich schlecht, weil ich nichts mit Michael zu tun haben wollte, es aber wohl musste. Von all den Jungs, die auf der Gästeliste standen, gab es keinen einzigen, der mir gefiel. Ich wollte mit keinem von ihnen alleine sein und erst recht nicht alleine in einem Zimmer, umgeben von anderen Betrunkenen in meinem Alter. Ich wünschte mir die Zeit zurück, in der ich meine Eltern darum gebettelt hatte, mich auf eine Party zu lassen, und sie stur blieben und es mir verboten, doch leider hatte ich das Alter erreicht, in dem meine Eltern, vor allem meine Mutter, sich wünschte, dass ich ihnen endlich einen Jungen vorstellte und meine Zeit nicht weiter damit verschwendete, mich in meinem Zimmer einzusperren und lautstark meine CDs abzuspielen, die weder meine Eltern noch unsere Nachbarschaft gerne hörten. Was Musik anging, war ich ihnen mit Hard Rock und Metal dann wohl doch zu neumodisch.

"Also jetzt sag schon, was bedrückt dich?", fragte meine Cousine ein zweites Mal. Sie strich mir über die Wangen und rieb ihre Fingerspitzen zusammen. "Wieso hast du den Rouge wieder abgemacht?" Sie schmollte und hob mein Kinn ein Stück an, damit ich mich selber im Spiegel betrachten konnte. "Du bist so hübsch, Laura, gefällst du dir etwa nicht? Ist es das?" Ihre Fragen überforderten mich; schließlich wusste ich selbst nicht, was genau es war, das mit mir nicht stimmte. Ich wusste nur, dass ich mich in dem ganzen Aufzug schrecklich fühlte. Meine Haut konnte unter der Schminke nicht atmen, der Kirschlippenstift klebte ungeheuer und das viele Haarspray ließ mich aussehen, als hätte ich ein Nest auf dem Kopf. Ich mochte es, mich herzurichten, jedoch nicht, wenn es darum ging, alles an mir unter einer Pracht aus Puder und Farbe zu verdecken. Ich verstand nicht, wieso Michael mich nicht auch in einer Hose, sondern nur in einem Rock mochte, der so kurz war, dass ich ihn bei jeder Bewegung runterziehen musste. Wenn ich mich jedes Mal so für ihn aufplustern musste, dann wollte ich ihn noch weniger als ich es bereits tat. "Ich weiß nicht, ob ich noch auf die Party gehen möchte", erklärte ich unsicher. Carla kicherte. "Sie bekommt kalte Füße", spottete sie und schaute abwertend zu Michelle rüber. Jennifer lachte, jedoch nicht, weil sie sich über mich lustig machte; so etwas würde sie nicht tun. Es war ein aufmunterndes Lachen, eins, das mir meine Sorge nehmen sollte. "Jeder hat Angst vor seinem ersten Kuss, denk einfach nicht zu lange darüber nach", sagte sie. Um genau zu sein, dachte ich schon seit mehreren Wochen darüber nach. Spätestens seit der Sekunde, in der Carla die Idee geäußert hatte, dass Chads Party die perfekte Chance für mich wäre, meine Jungfräulichkeit endlich zu verlieren, hatte ich keine ruhige Minute mehr gefunden. Nachts lag ich wach und stellte mir vor, wie Michael immer näher an mich rutschte, wie er seine Augen schloss und unsere Lippen sich berührten, wie seine Hände an Orte wanderten, die selbst vor meinen sicher waren, und jedes Mal spürte ich nichts weiter als Abneigung. Ich hatte sogar damit begonnen, mir dasselbe Szenario mit anderen Jungs vorzustellen. Wenn ich den Wocheneinkauf für Mrs. Miller machte, schaute ich den Männern am Kühlregal hinterher. Ich achtete auf ihre Arme, ihre Körpergröße, ihren Duft und auf alles andere, wovon Jennifer, Michelle und Clara ständig schwärmten, doch nichts davon schien in mir das ersehnte Kribbeln auszulösen. Ich stand einfach nur da und starrte sie wie eine Irre an. Ich schaute Unmengen an Liebesfilmen, doch meine Aufmerksamkeit blieb nie bei Leonardo DiCaprio oder Johnny Depp. Dafür konnte ich nach "Edward mit den Scherenhänden" nicht damit aufhören, an Winona Ryder und ihre wunderschönen großen, braunen Augen zu denken. Vielleicht lag es daran, dass ich Liebesfilme nicht wirklich für sehenswert hielt. Schon als kleines Mädchen träumte ich nicht von dem gutaussehenden Helden, der mich aus den Zwängen des Räubers rettete. Ich war stets die Böse in jedem Szenario. Mit den Fingerspitzen in Form einer Pistole auf die Wand gerichtet, stand ich in meinem Zimmer und bildete mir ein, dass ich die beste Schützin in ganz Texas war. Selbst wenn Michael der Kirschgeschmack meiner Lippen gefiel, ich würde nicht seine Freundin sein können. Da war etwas tief vergraben in mir, das mich von den anderen abgrenzte und mich zu einem gefährlichen Menschen machte. Ich selbst hatte noch nicht herausgefunden, welche Last an meiner Seele hing, doch ich wusste schon immer, dass ich kein normales Leben führen würde. Dafür war ich einfach nicht gemacht. Ich war für etwas Dunkleres, Gefährliches gedacht, und das war Michael auf jeden Fall nicht; keiner hier in Abilene war das.

WILD, WILD GIRLSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt