Bei jeder Séance in meiner Einzimmerwohnung hänge ich schwarze Bettlaken vor die Wände und die Einrichtungsgegenstände. Ich hoffe, dadurch eine düstere und mystische Atmosphäre zu schaffen, aber wenn ich mich so umsehe, muss ich mir eingestehen, dass der Effekt ausbleibt. Es sieht eher so aus, als wohne hier jemand ihm Gothic-Wahn oder eine Serienmörderin, der die Plastikfolie ausgegangen ist.
Aber was bleibt mir übrig? Meine Mittel sind begrenzt. Anders als beim Rest meiner Familie. Ich habe kein schönes und helles Gewächshaus wie meine Schwester Aurelia, die dort Floromatie praktiziert. Kein weitläufiges Atelier wie das meiner Mutter, in dem sie aus Händen liest, oder fliege wie mein Vater kreuz und quer über den Kontinent, um wohlhabenden Kunden in ihrem Zuhause die Karten zu legen. Selbst diese mickrige Wohnung kann ich mir nur leisten, weil sie ursprünglich die Abstellkammer des Ateliers meiner Mutter war.
Ich wünsche mir so sehr, dass es anders wäre. Dass ich endlich meine Gabe entdecke. Egal, ob im Chanelling, in der Zufallsmystik, in der Numerologie oder sonst wo. Dann könnte ich auf eigenen Beinen stehen, ausziehen und meine Familie würde aufhören mich so anzusehen, als wäre ich eine zerquetschte Fliege auf einer Seite ihres geliebten Gesetzbuches zum Umgang mit dem angeborenen Talent des Sehens.
Abraxas liegt ausgestreckt auf meinem Bett. Ich versuche, ihn zu verscheuchen, damit ich das schwarze Bettlaken entfernen kann, als mein Handy vibriert und die Titelmelodie von „Der Pate" ertönt. Ich brauche nicht auf das Display zu schauen, um zu wissen, dass mich bei dem Klingelton am anderen Ende der Leitung genau genommen die Patin erwartet.
„Hi Ma!", eröffne ich das Gespräch, nachdem ich den Anruf angenommen habe. „Bevor du etwas sagst, ich weiß, dass ich die Regeln der Zu.n.f.T. missachtet habe, aber musst ausgerechnet du immer diejenige sein, die meine Verstöße meldet?"
Als Antwort kommt bloß ein Seufzen. So tief und so enttäuscht, wie es nur meine Mutter auszustoßen vermag. Um die Wirkung dieses Lauts noch zu verstärken, macht sie eine Kunstpause und legt erst dann mit ihrer Standpauke los. „Runa! Du bist eine Schande für unsere Gemeinschaft! Ständig rennt mir verstörte Kundschaft von dir entgegen. Als ob die Sache mit Herrn Angerer noch nicht schlimm genug war, folgt heute direkt das Dilemma mit Frau Schmidt. Wieso nimmst du ihre Fälle überhaupt an? Wenn du möchtest, dass ihnen geholfen wird, schick sie gleich zu mir, oder lerne endlich, die dir angeborene Gabe zu nutzen. Und selbstverständlich melde ich dich der Zu.n.f.T. Ihre Regeln zu bewahren, ist die Pflicht von uns allen und erst Recht von mir als ihre Vorsitzende. Du solltest stolz auf deine Familie und ihren Einfluss in der Gemeinschaft sein. Jeder weiß, welch Ehre es ist, den Namen von Videus tragen zu dürfen. Immerhin reichen unsere Wurzeln Jahrtausende zurück."
Oh nein! Gleich fallen die Worte Mesopotamien und Eingeweideschauen.
„Deine Ahnenlinie lässt sich bis nach Mesopotamien zurückverfolgen. Vergiss das nicht! Damals waren deine Vorfahren berühmt für ihre Eingeweideschauen. Niemand konnte so präzise die Zukunft aus den Gedärmen toter Tiere herauslesen, wie sie. Und später haben sie Armeen in Kriege begleitet, um mit den bedeutendsten Kriegsherren der Geschichte ihre Strategien für die Schlachten zu erarbeiten."
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(Ver-)Sehen
RomanceRuna von Videus entstammt einer mächtigen Familie von Seherinnen und Sehern, deren Ahnenlinie sich bis nach Mesopotamien zurückverfolgen lässt. Nur bei ihr selbst will dieses Talent nicht so recht zu Tage treten. In ihrem Bestreben, es trotzdem mit...