Am 20. Februar 2021 fanden im Babuschkinski-Bezirksgericht von Moskau gleich zwei Gerichtsverhandlungen gegen Alexei Nawalny statt: Die Berufung im Fall »Yves-Rocher« und die Urteilsverkündung im Verfahren wegen Verleumdung eines Veteranen. Das erste Gericht ließ die Entscheidung über die Umwandlung einer Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe in Kraft, ungeachtet einer Eilentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in der Nawalnys sofortige Freilassung verfügt wurde. Im zweiten Verfahren wurde er zu einer Geldstrafe von 850.000 Rubel (etwa 10.000 Euro) verurteilt. In beiden Verfahren hat er ein letztes Wort gesprochen. Wir veröffentlichen beide.
BERUFUNG IM FALL »YVES-ROCHER«: RUSSLAND WIRD GLÜCKLICH SEIN
Ich muss so oft mein letztes Wort sprechen! Jetzt geht die Verhandlung zu Ende, und dann habe ich gleich die nächste, und da gibt es wieder ein letztes Wort. Wenn jemand irgendwann mal meine letzten Worte herausgeben sollte, wird das ein dickes Buch. Mir scheint, das ist ein bestimmtes Signal, das dieses ganze Regime und Wladimir Putin, der Herr des sagenhaften Palastes, mir senden wollen. Das sieht zwar seltsam aus, aber wir können das, schau, wir können das so machen. Wie ein Jongleur oder Zauberer, der im Gerichtssaal den Ball auf dem einen Finger kreisen lässt, dann, hopp, auf dem anderen, dann auf dem Fuß, dann auf dem Kopf. Und sie sagen: »Schau her, wir können dieses ganze Rechtssystem an einem beliebigen Teil unseres Körpers kreiseln lassen, was willst du gegen uns machen? Wir können tun, was wir wollen, schau nur, genau so.«
Aber ehrlich gesagt, ich glaube, das ist einfach nur Angeberei. Es stimmt, sie können mit mir machen, was sie wollen, und das tun sie auch. Aber ich bin schließlich nicht der Einzige, der das sieht. Bei den normalen Menschen, die das mit ansehen, hinterlässt das einen starken Eindruck. Weil jeder sich denkt: »Oha. Und wenn ich es mal mit der Justiz zu tun kriege? Welche Chance habe ich dann, irgendetwas zu erreichen?«
Aber nichtsdestotrotz, das letzte Wort steht an, also muss ein letztes Wort gesprochen werden. Ich weiß schon gar nicht mehr, worüber ich reden könnte, Euer Ehren. Wenn Sie wollen, spreche ich mit Ihnen über Gott? Und über das Seelenheil. Ich stelle sozusagen den Hebel für Pathos auf Vollgas. Ich bin nämlich ein gläubiger Mensch. Was in der Stiftung für Korruptionsbekämpfung und in meinem Umfeld ein regelmäßiger Anlass für Witzeleien ist. Die Leute sind ja meist Atheisten, ich war auch mal einer, sogar ein ziemlich militanter. Aber jetzt bin ich ein gläubiger Mensch, und das hilft mir sehr bei meiner Tätigkeit. Alles wird viel, viel einfacher dadurch. Wissen Sie, ich grüble weniger nach, ich stehe vor weniger Dilemmata in meinem Leben. Denn ich habe so ein Buch, in dem mehr oder weniger präzise beschrieben ist, was man in welcher Situation zu tun hat. Es ist natürlich nicht immer einfach, sich an das Buch zu halten, aber im Großen und Ganzen bemühe ich mich. Und deshalb fällt es mir leichter als anderen in Russland, mich mit Politik zu befassen. Kürzlich hat mir jemand geschrieben: »Nawalny, dir sagen sie ständig: Halte durch, gib' nicht auf, ertrage es, beiß' die Zähne zusammen. Was hast du denn eigentlich zu ertragen? Du hast doch in einem Interview gesagt, dass du an Gott glaubst. Und es steht doch geschrieben: Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Wahrheit, denn sie werden gesättigt werden. Also, es geht dir doch bestens.« Und ich dachte: Wow, wie gut dieser Mensch mich doch versteht. Nicht, dass es mir bestens gehen würde, aber diesen konkreten Spruch habe ich eigentlich immer als eine Art Handlungsanweisung verstanden.
Natürlich bin ich nicht entzückt von dem Ort, an dem ich mich befinde. Aber trotzdem empfinde ich keinerlei Bedauern darüber, dass ich zurückgekehrt bin, oder über das, was ich tue. Denn ich habe alles richtig gemacht. Im Gegenteil, ich verspüre eine tiefe Zufriedenheit. Warum? Weil ich einem schwierigen Moment getan habe, was in der Handlungsanweisung steht, und dass das Gebot nicht verraten habe. Und dazu etwas ganz Wichtiges: Ohne Frage klingt dieser Spruch – »die Seligen« – »die da hungern« – »die nach der Wahrheit dürsten« – »sie werden gesättigt sein« – für einen heutigen Menschen schwülstig. Es klingt schräg. Menschen, die solche Dinge sagen, wirken verrückt und seltsam. Solche Menschen sitzen mit zerrauften Haaren in ihrem Kämmerchen und versuchen sich mit irgendetwas aufzumuntern, weil sie Einzelgänger sind; und sie sind Einzelgänger, weil sie von niemandem gebraucht werden. Und das ist das Wichtigste, was die Macht, was unser ganzes System solchen Menschen einzubläuen versucht: Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger. Zuerst ist es wichtig, dir Angst einzujagen, und dann, dir zu beweisen, dass du allein bist. Wir sind schließlich normale, vernünftige Menschen, was soll man sich da an irgend so ein Gebot halten, meine Güte? Deshalb, wenn es um Einsamkeit geht – das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ein sehr wichtiges Ziel dieser Macht. Sehr schön hat das eine bemerkenswerte Philosophin namens Luna Lovegood ausgedrückt – erinnert ihr euch an sie in »Harry Potter«? Als sie sich mit Harry Potter in einem schwierigen Moment unterhält, da sagt sie: »Es ist wichtig, sich nicht allein zu fühlen. Denn an Voldemorts Stelle würde ich sehr wollen, dass du dich allein fühlst.« Unser Voldemort in seinem Palast will das mit Sicherheit genauso.
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Das Verweilen an wahnsinnigen Orten
Non-FictionSelig sind, die da hungern und dürsten nach der Wahrheit, denn sie werden gesättigt werden.