Kaira spürte noch Cillians starke Arme in ihrem Rücken, bevor sich ihre Sicht für die Außenwelt vollkommen verfinsterte. Vor ihrem inneren Auge manifestierte sich ein Bild. Erst war es nur schemenhaft, kaum zu erkennen, doch umso stärker sie daran fest hielt, desto klarer wurde es.
Diese Vision war anders, als jene, die sie hatte, wenn Mou'Mati seine Augen mit ihr teilte, so wie er es in der vorletzten Nacht getan hatte, als sie die Gestalt gesehen hatte. Auch jetzt spürte sie die Anwesenheit des Raben in ihrem Kopf, doch die Vision war nicht wie sonst von Schatten durchzogen. Stattdessen war es, als schaue sie durch dickes schmutziges Glas, durch welches auch der Ton nur gedämpft zu ihr drang.
Doch sie erkannte die Gestalt aus den Bildern, die vermutlich Mou'Matis Erinnerungen waren, die er, warum auch immer, gerade jetzt mit ihr teilen wollte. Sie hatte das gleiche schwarze glatte Haar und diese leuchtend violetten Augen. Die gleiche aufrechte schlanke Statur, nur ihr Gesicht war von einigen Furchen durchzogen, die ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch taten.
Es war ihre Mutter und umso länger die Erinnerung andauerte, desto mehr begriff Kaira, bei was sie ihr vom Fenstersims ihres Gemachs eigentlich gerade zu sah. Die Seherin wirkte einen Zauber, etwas, das anders als die Gabe des Sehens eher verteufelt wurde und nicht gern gesehen war.
Kaira hatte sie noch nie einen Zauber wirken sehen, geschweige denn, selbst aktiv Magie benutzt. Darin war sie nie unterrichtet worden, nicht zuletzt zu ihrem eigenen Schutz, schließlich landete man zu diesen Zeiten schon für weitaus geringere Taten auf dem Scheiterhaufen.
Und die gedämpften fremden Worte, die ihre Mutter vor ihrer Glaskugel sprach, gehörten nicht nur zu irgendeinem Zauber. Sie waren ein Fluch und in der Glaskugel erschien Kairas Gestalt.
Sie hatte sie verflucht, sie hatte ihre eigene Tochter verflucht, kurz bevor sie für ihre Hochzeit in die Kutsche zum Schloss des verbündeten Reiches gestiegen waren.
Die Erkenntnis des Verrats ließ Kaira kälter, als sie erwartet hätte. Irgendwie hatte sie nichts besseres von ihrer Mutter erwartet. Wenn sie sie zur Hochzeit mit einem völlig Fremden verdammte, was war dann schon ein Fluch? Ihr Leben hatte sie sowieso schon in der Hand.
Nur jetzt nicht mehr, dachte Kaira mit einem Anflug bitterer Zufriedenheit.
Das Gefühl der Überlegenheit verrauchte in dem Moment, in dem Mou'Mati es wie auch immer fertig brachte, ihr ebenfalls die Bedeutung des Fluches zu offenbaren. Und diese ließ Kaira beinahe das Blut in den Adern gefrieren.
Auf einmal, von ganz alleine, fanden sich die Verknüpfungen in ihrem Kopf, die den Worten von Katharinas Zunge eine Bedeutung verliehen. Sie mochte Kairas Leben bereits ruiniert haben, doch nun ging sie zu weit.
Mit ihrem Zauber verdammte sie jede einzelne Seele, die Kaira dazu verhelfen sollte, ihrem vorbestimmten Schicksal als Herrscherin an Cillians Seite zu entfliehen. Nur dass das ein ganzes Dorf war.
Cillian hatte Recht, die Schrecken waren nicht vorbei, nicht bevor jeder einzelne, der ihr half, Leid erfahren hatte. Moriko, der Bürgermeister, die kleine Willow. Sie waren immer noch in Gefahr. Das ganze verdammte Dorf.
Und es war Kairas Schuld. Sie setzte sie mit ihrer bloßen Anwesenheit unvorstellbaren Schrecken aus.
Die Gestalt ihrer Mutter verschwamm schließlich wieder, als Mou'Matis Erinnerung langsam verblasste und sich ihr starrer Blick wieder auf ihre Umgebung fokussierten.
Graue Augen materialisierten sich nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Sie konnte nicht verhindern, nach Luft zu schnappen.
Sie standen immer noch wenige Meter vor dem Friedhofstor, die halbe Beerdigungsgesellschaft um sie herum. Die Sorge wich trotz ihres gezwungen Lächelns nicht aus Cillians Miene.
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Dem Schicksal zum Trotz
Fantasy"Verschwindet wieder, solange ihr könnt. Die Menschen hier sind bei Nacht nicht dieselben." 💜•💜•💜 Die siebzehnjährige Seherin Kaira genießt ein adliges Leben am Hof ihrer Eltern. Das letzte, was sie jetzt will, ist es, zwangsverheiratet zu werden...