Kaira konnte nicht atmen. Ihre Lungen weigerten sich schlichtweg, sich auszudehnen und doch zwang sie sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihre Brust fühlte sich merkwürdig schwer an, so als wäre ihr Herz bereits zu Stein erstarrt, als es hörte, wie wenig Zeit ihm zum Schlagen blieb.
Wie hatte sie nur so töricht sein können? Hatte sie in ihrem guten Willen, das Dorf zu beschützen, alle strategischen Lektionen vergessen, die sie je am Hof gelernt hatte? Nur weil sie die Wahrheit kannte, bedeutete das nicht, dass alle anderen sie auch erkannten.
Es versprach nicht automatisch, dass sie dadurch sicher war. Denn die Ehrlichkeit triumphierte selten, vor allem, wenn in den falschen Momenten eingesetzt.
Vor ihrem Geist leuchteten sturmgraue Augen auf, die sie so eindringlich ansahen, als könnten sie durch ihre Augen direkt in ihre Seele schauen. In seinem Blick hatte so viel Entschlossenheit gelegen, dass sie noch wagte, zu hoffen.
Da war ein stummes Versprechen gewesen, auf das sie sich verließ. Auf das sie sich verlassen musste, denn sie hatte keine Ahnung, was Cillian tun wollte.
Noch einmal schloss sie die Augen und atmete tief durch, bevor sie die schwere Tür des Jägerhauses aufdrückte. Drinnen taute die Wärme ihre vom Wind erstarrten Züge langsam auf. Ihre Lippen schmeckten salzig und erst jetzt bemerkte sie die Tränen, die auf ihren Wangen bereits trockneten.
Moriko saß in dem breiten zerfledderten Sessel vor dem Feuer und hielt Willow im Arm. Der kleine Körper des Mädchens hob und senkte sich gleichmäßig.
Als er Kaira bemerkte, wandte er behutsam den Kopf. Ohne ein Wort zu verlieren, erhob er sich und legte Willow vorsichtig in das Bett vor dem Ofen. Dann wanderte er hinüber zu dem hölzernen Esstisch und zog sich einen Stuhl zurück.
Kaira beschloss, es ihm nachzutun und setzte sich ebenfalls. "Ich bin Kaira, freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen." Sie dämpfte ihre Stimme, um Willow nicht zu wecken.
Der Jäger musterte sie aufmerksam. "Moriko. Der Bürgermeister hat euch mein Haus gegeben?"
Sie schreckte bei dem schroffen Ton zusammen. "Ja, aber wir verstehen natürlich, dass wir, nun, da Ihr wieder da seid, weiter-"
Moriko schüttelte den Kopf. "Nicht nötig. Ihr könnt gerne bleiben, Willow mag euch und ich habe hinten noch ein Bett. Der Bürgermeister jedoch sollte anfangen, seine Nase nicht immer in fremde Angelegenheiten zu stecken."
"Ich denke, er nahm an, dass Ihr tot wärt."
"Bitte sag du, der ganze Quatsch mit dem Ihr und Euch ist viel zu adlig für diese Gegend." Er schüttelte den Kopf und erhob sich, um etwas Wasser auf dem kleinen Herd aufzusetzen. "Und es mag stimmen. Ich war länger weg, als ich es beabsichtigt hatte", gestand er schließlich mürrisch. "Willst du auch einen Tee? Ich habe aber nur Kamille."
Kaira nickte. "Sehr gerne."
"Ich wäre schon viel früher zurückgekommen, aber als ich die Fährte einmal aufgenommen hatte und sah, wie groß das Biest sein muss, musste ich weiter. Tommi war ihr bester Freund, weißt du?" Er nickte zu der friedlich schlafenden Willow hinüber. "Ich kann nicht zulassen, dass meinem Mädchen das Gleiche geschieht wie diesem armen Jungen."
Er stellte zwei Tassen mit dampfendem Tee darin auf die Tischplatte. Kaira nahm eine und schlang ihre kalten Finger darum. Der Dampf und die warme Tasse hatten etwas Tröstliches. "Du hast nicht gegen mich gestimmt heute morgen."
"War das eine Frage?"
Nein, lediglich eine Feststellung. Vielleicht eine Suche nach Bestätigung. Einer Bestätigung dafür, dass ihre Anklage vielleicht doch nicht so dumm war, wie sie glaubte.
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Dem Schicksal zum Trotz
Fantasy"Verschwindet wieder, solange ihr könnt. Die Menschen hier sind bei Nacht nicht dieselben." 💜•💜•💜 Die siebzehnjährige Seherin Kaira genießt ein adliges Leben am Hof ihrer Eltern. Das letzte, was sie jetzt will, ist es, zwangsverheiratet zu werden...