XV. Was nur der Mond ahnt

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Die Sonne streckte noch ein letztes Mal ihre Strahlen nach dem Land aus, bevor sie am Horizont versank und ein Meer aus feuerfarbenen Wolken am Himmel zurückließ. Die roten, orangenen und rosa Fetzen, die der Wind dort oben langsam vor sich her trieb, waren wie ein Spiegel für die Ländereien, die die Sonne soeben in der hereinbrechenden Nacht zurückließ. Der Herbst war über dem vereinten Königreich hereingebrochen und er hätte nicht bunter sein können. Das strahlende Laub bedeckte sowohl die Bäume als auch den Boden.

Manche Bürger des Königreichs erzählte sich, die Farben würden das kommende Jahr vorhersagen. Rot wie Blut symbolisiere den Tod. Grün und Braun dagegen ständen für Frieden und Wohlstand. Helle Farben, so wie Gelb oder Orange, so sagte man, seien ein Zeichen für Hoffnung und Glück. Die meisten glaubten nicht daran und doch konnte niemand umhin, nicht zu bemerken, wie durchtrieben von Rot die Blätter dieses Mal waren, die der Herbstwind übers Schlossdach hinaus im ganzen Reich verteilte.

Und da war eine andere Farbe, die zuvor noch nie in den Wäldern gefunden worden war: Ein kühles Violett mischte sich in das Farbenmeer und hob sich von den anderen warmen Tönen ab, sodass die Bäume von weitem oft schwarz besprenkelt aussahen.

In der Nacht waren alle diese Farben vergessen, solange der Mond nicht beschloss, sie strahlen zu lassen. Und in dieser Nacht ließ er nur das schimmernd weiße Fell einer Stute leuchten, die er vor einem halben Jahr genau in die andere Richtung geleitet hatte. Jetzt bahnte sich ihre Reiterin einen Weg zurück durch den dunklen Wald, ihre Augen passten zu den Sprenkeln in den Bäumen. Und derselbe mitternachtsschwarze Rabe glitt über ihnen durch die Luft und zeigte seiner Königin den Weg.

Doch obwohl er das Pferd und den Raben wiedererkannte, konnte der Mond die Reiterin nur mit Mühe mit dem Mädchen verknüpfen, das vor gar nicht allzu langer Zeit diesen Wald in gestrecktem Galopp hinter sich gelassen hatte.

Das hier war die Königin, berechnend und kalt, und das Mädchen mit dem Herzen hatte sie begraben.


ENDE

Dem Schicksal zum TrotzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt