Kapitel 2

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Donnerstag. Wriothesley hatte eine eher semi-erholsame Nacht. Es kam ihm selbst lächerlich vor, aber er hatte Stunden gebraucht um einzuschlafen, weil er jetzt schon so aufgeregt war. Er fühlte sich wie das kleine, unschuldige Kind, das er einst war.

Heute war jedenfalls deutlich mehr zu tun im Vergleich zu gestern. Als er an dem Morgen aufwachte, musste er feststellen, dass sein Schreibtisch förmlich zugekleistert mit Zetteln und Anträgen jeglicher Art war. Neben seinem Stuhl waren Kisten aufgestapelt, so hoch wie er groß war. Ohne Zweifel Schmuggelware, die den Morgen reingekommen ist. Dass die Sträflinge so früh schon illegale Ware bei ihren Außenkontakten anfordern würden... man sollte mutmaßen, sie wüssten mittlerweile, dass es zwecklos war. Jedenfalls machte sich Wriothesley sofort daran, Ordnung auf und neben seinem Tisch zu schaffen.

Während er so durch die Papiere und Briefe schaute und alle kurzzeitig überflog, blieb sein Blick an einem der Briefe haften, dessen Inhalt er daraufhin gründlicher las: im großen und ganzen wurde dabei von Lebensmittelknappheit im Fort von Méropide geredet. Die Leute, die die Waren normalerweise überlieferten, waren verhindert und die Ware müsste eskortiert werden. Also, ein Auftrag für Wriothesley selbst, dort mit Gefolgsleuten hinzugehen. Warum hatte Wolsey ihm am Vortag nicht bereits gesagt, dass das Essen knapp wurde? Vielleicht vermutete er, Wriothesley wüsste schon davon? Sei es drum, er würde noch eine Truppe zusammenschließen, nachdem er hier fertig war.

Im Vergleich zur Unruhe in Méropide an diesem Morgen war es im Palais Mermonia außerordentlich still. Wobei, eigentlich war das so ziemlich der Standard. Während die Arbeiter der verschiedenen Maisons im Hauptflur beschäftigt waren, saß Neuvillette in seinem Büro. Der Stuhl seines Schreibtisches, auf dem er saß, war dem Fenster dahinter zugerichtet, während er von dort hinausschaute und seine Gedanken wandern ließ. So wie Wriothesley gestern hatte Neuvillette heute nicht viel am Hut. Eine echte Seltenheit, wirklich. Er hatte alle Zeit der Welt, zumindest die darauffolgenden Tage noch und er wusste nicht im Geringsten etwas Produktives mit dieser Zeit anzufangen.

Er rückte sich wieder ordentlich seinem Schreibtisch entgegen und senkte seine Ellenbogen auf der Tischplatte ab, während er seine Stirn in seine Hände sinken ließ. Egal wie oft er es auch versuchte, Neuvillette konnte partout nicht begreifen, wie Menschen mit 'Freizeit' umgehen konnten. Wie verbrachte man seine Zeit denn schon, wenn nichts anstand? Würde man einfach eine leere Wand für ein paar Stunden anstarren? Wer könnte sich schon über so etwas freuen, es ergab für ihn keinen Sinn. Neuvillette kam aus seiner inneren Zerrissenheit wieder heraus, als ein Klopfen an der Tür seines Büros erklang. Er hob den Kopf und senkte seine Arme. "Herein, bitte!" Rief er. Die Tür schwang auf und Sédène trat herein mit einem Glas Wasser. "O-oh, vielen Dank, Sédène, das wäre nicht nötig gewesen!" Bedankte er sich herzlichst und nahm ihr das Glas ab. "Nicht doch, Monsieur Neuvillette. Ich und die anderen Melusinen kennen Euch schon lang genug. Ich dachte mir, Ihr könntet es brauchen." Erklärte sie. Neuvillette nickte dankend. "Äh, übrigens...geht es Euch gut? Ihr wirkt gestresst, Monsieur." "Aha-ha, mir geht es gut, keine Sorge. Ich...weiß nur nicht recht etwas mit mir anzufangen im Moment." Sédène schwieg, scheinbar nachdenkend. "Warum geht ihr nicht ein wenig raus? Sicherlich könnte ein Spaziergang Euch ablenken. Habt Ihr eigentlich bereits ein Ensemble für den Maskenball?" "Das habe ich in der Tat bereits. Und ich schätze du hast recht. Ein Tapetenwechsel wäre wohl die beste Möglichkeit, meine Zeit zu verbringen." Stimmte er ihr zu.

Sobald er also sein Wasser getrunken hatte, war er aus der Tür und lief die Straßen entlang. Er kam zwar oft an den meisten Orten vorbei, wenn er auf dem Weg zum Opernhaus Epiclèse war, doch es waren stets nur Spaziergänge wie dieser, bei denen er sich aktiv in seiner Umgebung umschaute. An jedem erdenklichen Laden streifte er vorbei, gar schon neugierig, wenn er flüchtig auf Tresen und Schaufenster spähte. Er war im großen Park im Zentrum der Stadt, war im Osten und sah auf das Meer hinaus und gegen Nachmittag war er sogar in einem kleinen Café. Die ganze Zeit über, die er in der Stadt unterwegs war, überhörte er des öfteren überraschte Menschen über ihn reden. Mittlerweile war er sich auch sicher, dass er schon mindestens 100 Male von Journalisten fotografiert wurde. Es machte ihm ansich nichts aus, auch wenn Neuvillette sich eher freuen würde, wenn er mal von Zeit zu Zeit wegen Fotos gefragt werden würde. Allerdings erinnerte ihn der kleine Trip auch irgendwie wieder daran, warum er sich nur selten sehen ließ. Er fühlte sich schlecht dabei, den Menschen um ihn herum allein durch seine unangekündigte Präsenz die Köpfe zu verdrehen. Neuvillette selbst hatte immer den Eindruck, dass sie sich vor ihm fürchteten. Nicht einmal kam ihm je in den Sinn, dass sie sich nur aus Respekt vor einer Autoritätsperson wie ihm selbst so benahmen. Nur zu oft bedauerte er dieses Benehmen. Nachdem er seit Jahrhunderten bereits hier war, sollten die Menschen sich da nicht langsam an ihn gewöhnt haben?Eine ganze Weile blieb er in Gedanken versunken an seinem Platz, während die Wolken sich allmählich immer näher am Himmel zusammenschoben...

Wenn der Damm brichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt