Sonnenblumen

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Tausend Gesichter,
von Kränzen umrahmt,
aus strahlendem Gelb,
wie goldblondes Haar.

Wind streicht durch das Blütenmeer,
raschelt in den Blättern,
singt uns ein Lied.

Die Köpfe wiegend zur Melodie,
schlafend und träumend,
weinend und seufzend -
nichts ist schöner als Traurigkeit.

Ewig scheint der Sommer.

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Es ist der bisher schönste Sommer meines Lebens - er währt bereits lange genug, dass ich vergessen konnte, was ich im vergangenen Schuljahr gelernt habe, aber er dauert gleichzeitig noch ausreichend lange an, um keine Gedanken an kommende, arbeitsreichere Tage verschwenden zu müssen.
Halbzeit also.
Jener Sommertag, an welchem diese Geschichte beginnt (und auch endet), hatte besonders vielversprechend begonnen:
Ein gemütliches Frühstück im Garten, ein kurzer Ausflug zum See, ein anschließendes Volleyballspiel unter Freunden...
Die Zeit vergeht schnell, wenn man glücklich ist. Im Nu werden die Schatten länger, man verabschiedet sich hastig, um den letzten Bus nach Hause nicht zu verpassen.
Der erwähnte Bus ("Feierabendfahrt-über-alle-Dörfer"-Linie) ist ziemlich leer, vorne beim Busfahrer sitzt ein altes Muttchen, ganz hinten sitze ich, sonst fährt keiner mit. Seufzend setze ich meine Lieblingskopfhörer auf, denn für die kommende Fahrt werde ich ein wenig Unterhaltung brauchen.
Haltestellen: Waldsee - Dorfplatz - Abzweig - Wanderparkplatz. Noch 13 Haltestellen.
Die Landschaft hinter dem Fenster ist hügelig, der Horizont wogt in sanften Bögen auf und ab, während die Sonne unaufhaltsam sinkt. Der nächste Halt wird angezeigt: "Zwischen den Feldern". Stirnrunzelnd lehne ich mich in meinem Sitz zurück, um voraus auf die Straße sehen zu können.
Und wirklich, inmitten vom Nirgendwo, auf halbem Weg von Irgendwo nach Irgendwo Anders, hat man eine neue Haltestelle errichtet, an der höchstwahrscheinlich einmal in der Woche jemand ein- oder aussteigt. Während das einsame Haltestellen-Schild in der Ferne langsam näher rückt, fällt mir noch etwas anderes ins Auge, und mir ist, als würde ich mit einem Mal geradewegs in die Wellen eines Meeres hineinfahren.
Das Meer, das sich vor mir erstreckt, ist jedoch nicht blau, sondern strahlend gelb. Außerdem besteht es nicht aus Wasser, nein, vielmehr aus leuchtenden Blumen. Sonnenblumen, so weit das Auge reicht! Wie in Trance hebe ich meine Hand, um den roten Halteknopf zu betätigen. Die Reifen unseres Fahrzeuges quietschen protestierend, als der überraschte Busfahrer beinahe eine Vollbremsung hinlegen muss, um noch auf der Höhe des Haltepunktes zum Stehen zu kommen. Dem tadelnden Blick, den er mir im Rückspiegel zuwirft, schenke ich kaum Beachtung.
Sobald ich ins Freie trete, begrüßt mich die schwere, angenehm duftende Sommerluft. Rund um den Bus herum stehen dutzende, hunderte Gestalten in grün und gold, doch keine von ihnen steigt ein, sie schweigen, stehen still, und neigen ihre Köpfe, wie um mich zu begrüßen.
...
Staub wirbelt auf der trockenen Straße auf, als sich der Bus anschickt, seine spätabendliche Runde zu beenden. 

Ich schaue ihm nach, wohl wissend, dass ich nun zu Fuß nach Hause gehen muss.
Links und rechts des Weges stehen Sonnenblumen Spalier, sie werden mir auf meinem Weg Gesellschaft leisten.
Schließlich, so wird mir klar, ist jene Gesellschaft überhaupt der Grund, warum ich meine einzige Mitfahrgelegenheit aufgegeben hatte.
Ich lächle leicht - fest überzeugt, dass meine spontane Entscheidung die richtige gewesen ist.
 

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