Die Bibliothek

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Da steht Sie- 

Wie ein Eisberg im kalten Meer, den achtlos Vorbeifahrenden nur Ihre oberste Spitze zeigend, während Sie Ihre eigentlichen Ausmaße heimlich unter der Oberfläche verbirgt. 


Sie steht wie ein Baum, mächtig und alt, tief und fest verankert im Wald der Großstadt.
Insekten gleich tummeln sich Menschenmassen in Ihrer Krone, der Rinde Ihres Stammes und zwischen Ihren Wurzeln, doch verhalten sie sich still und leise, in Ehrfurcht erstarrt vor der Gewalt des Giganten. 


Kaum ist da eine Uhrzeit, zu der das Gebäude dunkel und verlassen steht, stets erhellt der Schein tausender Lampen die Lesesäle, Schreibtische und gemütlichen Sitzecken, kriecht noch bis in die hinterste Nische, um den Vorbeigehenden auch den Titel des zuhinterst stehenden Buches zu offenbaren. 


Stundenlang verbringen hier Studenten ihren Vormittag, Nachmittag, Abend, zu schnell verliert sich das Zeitgefühl unter den künstlichen Sonnen. Bildschirme flackern, erlöschen und flammen erneut auf, wenn Einer sich hastig erhebt und der Nächste seinen Platz einnimmt, um in die digitalen Labyrinthe der internen Suchmaschinen und Verzeichnisse einzudringen. 


Geht man tiefer und tiefer, so werden die Gänge immer leerer, die Hallen stiller und die Flüsterstimmen weniger. Man sagt, ganz tief in jeder Bibliothek schlummere das Wissen, welches man dort gut versteckt und vor den neugierigen Augen der Welt verborgen habe -
Schließlich, munkelt man weiter, wolle man Es um keinen Preis aufwecken. 

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