Eine Silvestergeschichte

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Eine Silvestergeschichte

...

Dunkelheit, nichts als Dunkelheit.
Wie eine schwarze Wand steht sie vor meinen Augen, Finsternis und Kälte streichen sanft über meine Haut, dringen in meinen müden Körper ein. Wie Parasiten setzen sie sich fest, gierig trinken sie von meiner stetig wachsenden Furcht.
Und wie sollte ich mich nicht fürchten? –
Allein bin ich, allein in einem tiefen, schockdusteren Wald.

...

Lange kann es noch nicht her sein, dass die Sonne untergegangen ist, trotzdem fühlt es sich an, als wäre es bereits mitten in der Nacht.
Mir ist jedoch sehr wohl bewusst, dass es nicht die Schwärze ist, die ich zu fürchten habe, nein, vielmehr ist die Kälte nun mein ärgster Feind.
Langsam, aber sicher dringt sie durch meine nassen Sohlen und feuchten Socken, langsam, doch beharrlich steigt sie an meinen Hosenbeinen empor und lähmt meinen Unterleib.
Durch den kniehohen Schnee zu stapfen, kostet einiges an Kraft, doch ich muss in Bewegung bleiben, es ist meine einzige Chance.
Zweige schlagen mir ins Gesicht, wollen mich fassen, wollen mich halten, in eine tödliche Umarmung zwingen, aus der es keinen Ausweg gibt.
Ich schlage zurück, doch kein Schmerzenslaut kommt von den hölzernen Lippen, einzig grüne Nadeln fallen mir geräuschlos entgegen.

...

Eigentlich, so denke ich bei mir, und auch uneigentlich, wollte ich jetzt ganz woanders sein- daheim, bei meinen Lieben. Dort, wo nun vermutlich freundliche Lichter leuchten und man gemeinsam dem neuen Jahr entgegenfiebert.
Doch es ist anders gekommen.
Unbedingt hatte ich einen Nachmittagsspaziergang unternehmen wollen. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, einen Wald zu besuchen, den ich zuletzt in Kindheitstagen betreten hatte.
Natürlich hatte ich mich verirrt.
Und nun war ich gefangen.
...

Ich bin auf einer Lichtung angekommen.
Doch ganz gleich, wohin ich auch schaue, immer ist es dasselbe:
Stumme Tannen, düstere Gestalten.
Jede Lücke im Gestrüpp sieht in ähnlicher Weise vielversprechend aus, nämlich überhaupt nicht. Ich drehe mich im Kreis, unentschlossen. Ob unter dem Schnee vielleicht ein kleiner Trampelpfad schlummert, oder gar ein fester Weg, der mir eine Richtung vorgeben könnte?
Erfahren werde ich es nie.

...

Mein Kiefer schmerzt.
Seit einigen Minuten muss ich fest die Zähne zusammenbeißen, um nicht verzweifelt aufzuschluchzen.
Zunehmend ist es auch die undurchdringliche Stille, die mir zu schaffen macht. Fast wünschte ich, das Knurren hungriger Wölfe würde mich hinter dem nächsten Busch empfangen, nur um zu beweisen, dass ich nicht allein bin, allein mit der Lautlosigkeit, knisternd, geladen, und voller düsterer Vorahnung.

...

Die Nacht büßt plötzlich etwas von ihrer Schwärze ein-
der Mond hat sich hinter den Wolken hervorgeschoben und ein paar Sterne funkeln ebenfalls matt vom Dach der Welt herab.
Und ehe ich's mir versehe, schauen auf einmal Millionen Himmelskörper mit stummem Spott auf mein Elend.
Sternenlicht lässt die Schneedecke geheimnisvoll glitzern. Ich kann wieder mehr erkennen, auch wenn es nichts Sehenswertes zu entdecken gibt.
Die Luft ist so stechend kalt, so klar, doch voller Anspannung, als müsste bald etwas Bedeutendes passieren. Ob dies etwas Gutes oder Schlechtes sein wird, kann ich nur erahnen, obwohl mir in diesem Moment sehr viele unangenehme und nur sehr wenige angenehme Dinge einfallen, die mir zustoßen könnten.

...

Ich habe einen Fehler gemacht, und ich weiß es: Aufgegeben habe ich, die Flinte ins Korn geworfen (beziehungsweise in die nächste Schneewehe). Nun bin ich verloren, genau genommen sogar schon tot.-
Denn die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Regungslos sitze ich unter der großen Tanne, die ich vor einigen Minuten als ewige Ruhestätte auserwählt hatte. Nun warte ich auf meinen finalen Atemzug.
Immerhin ist es hier weitestgehend trocken, sogar ein wenig sprödes Reisig liegt um den Stamm herum. Der bittere Gedanke, dass ich gerettet wäre, wenn ich nur etwas dabeihätte, um ein Feuer zu entfachen, schleicht sich ungebeten in meine Gedanken.
Jetzt wäre ein guter Moment, um in Tränen auszubrechen, doch ich kann es nicht mehr-
selbst das Wasser in meinen Augen scheint zu Eis gefroren zu sein.

...

Die Kälte wird unerträglich.
Meine Füße und Hände sind schon seit Ewigkeiten taub, langsam setzt das gefährliche Kribbeln ein. Der Frost macht auch meinem Denken zu schaffen, alles geht langsamer vonstatten, Konzentration fällt schwerer, Gedankengänge driften entweder in eine Sackgasse, ins Abstrakte - oder zu alten, fast verschütteten Erinnerungen.

...

Meine liebe Großmutter, was würdest Du wohl sagen, wenn Du mich in diesem Augenblick sehen könntest!
Lange Jahre bist Du es gewesen, die mich in Silvestersternächten vom grässlichen Lärm der Böller und Raketen mit Geschichten abzulenken versucht hat. Mit allerlei alten Sagen und Sprüchen wusstest Du mich aufzumuntern, mit Erzählungen, die heute keiner mehr kennt.
Einen kleinen Ring hast Du mir geschenkt, und ein Märchen hast Du um ihn gesponnen.
Wenn ich die Augen schließe, höre ich Deine Stimme:
„Wundersame Dinge geschehen in der Silvesternacht."

...

Traurig schaue ich auf den dünnen Silberreif, der an meinem rechten, schon fast erfrorenen Ringfinger steckt. Ich weiß nicht, wie er dort hingekommen ist, aber ich habe auch nicht die Energie, darüber nachzudenken.
Ohne noch eine Sekunde abzuwarten, drehe ich ihn einmal um seine Achse und rufe mit kratziger Stimme in die Stille des Waldes:

„Rolle Ringlein, rolle mein,
auf des Frühlings Stufen drein,
in des Sommers Flur hinein,
in des Herbstes Kämmerlein,
auf des Winters Teppich dann,
komm ans Neujahrsfeuer ran!"


Ich horche. Ich hoffe -
und erhalte, wie erwartet, keine Antwort.
Ohne dass ich es hätte verhindern können, entringt sich meiner Kehle ein bitteres, schreckliches, ja fast schon wahnsinniges Lachen.
Kraftlos sinken erst meine Knie in den Schnee, dann meine Hände, dann lasse ich mich vornüberfallen.
Da liege ich nun: regungslos, müde und ausgelaugt.
Eigentlich ist es ganz erträglich, in dieser Position auf das Ende zu warten, zumindest wenn man davon absieht, dass das Feuerzeug in meiner Hosentasche unangenehm gegen meinen Bauch drückt.

...

Feuerzeug.

...

Feuerzeug.

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Ich habe... ein Feuerzeug!

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Fast hätten meine gefühllosen Fingerkuppen es nicht mehr erstasten können.
Doch nun schließen sie sich unter Schmerzen um das kleine rote Feuerzeug, mit dem ich heute die Wunderkerzen meiner kleinen Cousine hatte anzünden wollen.
Mein Blick fällt auf die trockenen Zweige am Fuß der Tanne.

...

Als endlich die Flammen höher schlagen, strecke ich ihnen gierig meine Hände entgegen und kann es kaum glauben.
Rettende Wärme breitet sich in mir aus, gemeinsam mit der Gewissheit, dass ich heute noch nicht sterben werde.
Urplötzlich meine ich, aus weiter Ferne Glockengeläut hören zu können, kaum wahrnehmbar und teils vom Knistern des Feuers übertönt. Schluchzend, verwirrt, doch überglücklich, kauere ich mich zu einer Kugel zusammen.
Und während ich von den Toten auferstehe, taut aus meinen tränenden Augen das kalte, kalte Eis.

ENDE. 

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