Das Märchen vom dicken, fetten Pfannkuchen

4 1 1
                                    


„Ich will noch nicht schlafen!", quengelte Greta. Ihr kleiner Bruder Hans nickte zustimmend mit dem Kopf. Es war einfach unfair! Draußen war noch nicht einmal die Sonne untergegangen, trotzdem war es für beide schon an der Zeit, ins Bett zu gehen.

Das Großmütterchen lächelte milde auf die beiden Sturköpfe herab.

„Ihr müsst ausgeschlafen sein, sonst seid ihr morgen zu müde für euren großen Tag." Doch die Geschwister hatten wenig Verständnis. Zumindest ein wenig länger wollten sie noch wachbleiben. Hans wusste auch schon genau, wie sich das bewerkstelligen ließ: „Großmütterchen, erzähl' uns doch bitte eine Geschichte! Nur eine ganz kurze, bitte! Danach wollen wir auch schnell ins Bett gehen."

Die Großmutter lachte leise. Natürlich hatte sie mit dieser Bitte gerechnet und war, wie man das von Großmüttern kennt, bestens vorbereitet:

„Dann kuschelt euch schön fest in eure Decke und hört gut zu, denn nun erzähle ich euch das Märchen...

... Vom dicken, fetten Pfannkuchen.

Einst, so munkeln die Leute, soll es in einer kleinen, hübschen Stadt eine Backstube gegeben haben, die für ihre kunstvollen Torten und köstlichen Kekse bekannt war. Der Bäckermeister, ein dicklicher Mann mit einer roten Knollennase, war überaus freundlich und bei Alt und Jung hoch angesehen. Auch war er ein viel beschäftigter und fleißiger Mann: Schon früh in der Nacht erhob er sich aus seinem gemütlichen Bett, um die am Abend zuvor vorbereiteten Brötchen und Brote in den Ofen zu schieben. Pünktlich um sieben Uhr öffnete er dann die Ladentüre und verschloß sie nicht vor dem spätem Nachmittag. Danach putzte er die Backstube, bereitete die Ware für den nächsten Tag vor und begab sich müde und zufrieden zu Bett.

Doch wenn der brave Bäckermeister gewusst hätte, was sich spät des Nachts in seiner Backstube zutrug, so wäre er sicherlich überaus verwundert gewesen. Denn kaum dass die Uhr zwölf schlug, wurde es in der bis dahin so stillen Backstube plötzlich lebendig – Dort, auf dem großen Blech in der hintersten Ecke des Raumes, auf dem die Pfannkuchen für die Kinder lagen, begann sich etwas zu regen: Dem dicksten aller Pfannkuchen war nämlich eine große, rote Nase gewachsen! Sie war so groß, dass selbst der Bäckermeister vor Neid erblasst wäre. Und damit nicht genug! Nach und nach bekam der Pfannkuchen zwei lustige Augen, einen Schmollmund und zwei kurze Arme und Beine. Ein Weilchen lag er noch auf dem Rücken und wackelte ein wenig herum, doch dann... Schwups! Schon stand er fest auf beiden Füßen. Und hoppsa! Nun war er vom Blech herunter gehüpft und zum Schaufenster geeilt, um erwartungsvoll in den Nachthimmel zu spähen: Denn dort hoffte er, einen Blick auf seinen besten Freund, den guten Onkel Mond, werfen zu können.

Und tatsächlich, hinter einer Wolke lugte verschlafen ein rundes Gesicht hervor, das ihm freundlich entgegen blinzelte. Rasch lief der Pfannkuchen von der Backstube in den Laden, um dort durch ein geöffnetes Fenster nach draußen zu klettern. „Guten Abend!", begrüßte er seinen Gefährten. Der Mond erwiderte seinen Gruß. Gemächlich glitt er hinter seiner Wolke hervor und weiter am Nachthimmel entlang, um dem Pfannkuchen bei seinen nächtlichen Abenteuern den Weg zu weisen.

So zogen die beiden umher, der Mond hoch am Firmament, der Kuchen auf den Pflasterstraßen der schlafenden Stadt. Nach einiger Zeit gelangten sie an ein riesiges Kaufhaus. Mit großen Augen betrachtete der Pfannkuchen die Auslagen und sprach zu seinem Freund: „Lieber Onkel, wie schön muss das sein, jeden Tag mit diesen herrlichen Sachen zu tun zu haben! Wenn ich einmal groß bin, möchte ich Verkäufer werden." Der Mond lächelte milde und antwortete schließlich: „Mein Sohn, dieser Weg ist nicht der Deine. Auf dich wartet ein anderes Schicksal.". Da wandte sich der Pfannkuchen etwas enttäuscht von dem Schaufenster ab und setzte seinen Spaziergang fort.

Bald darauf kam er an an einem Schuhgeschäft vorbei. Begeistert richtete er seinen Blick auf ein Paar rote Tanzschuhe. „Sieh nur, Onkel Mond!", sprach er da, „Welch' schöne Stiefel! Wenn ich einmal groß bin, will ich ein Schuster werden!". Da schenkte der Mond ihm ein unergründliches Lächeln und wiederholte, was er schon zuvor gesagt hatte: „Mein Sohn, dieser Weg ist nicht der Deine. Auf dich wartet ein anderes Schicksal.". Entmutigt nahm der Pfannkuchen seine nächtliche Reise wieder auf.

Nach einigen Straßenecken erreichten die Gefährten schließlich einen großen Platz, in deren Mitte eine große Kathedrale stand. Als der Pfannkuchen an ihrem Fuß angelangt war, begann sie dreimal zu schlagen: Nur noch eine Viertelstunde blieb, bis sie die erste volle Stunde des neuen Tages verkünden würde. Ehrfürchtig schaute der Pfannkuchen empor zur Spitze und rief „Mond! Mein liebster Onkel Mond! Wie schön muss es sein, den lieblichen Klang der Glocken ganz aus der Nähe zu hören! Wenn ich einmal groß bin, ja, dann werde ich Glöckner!". Undurchschaubar war nun der Blick, mit dem der Mond seinen kleinen Verwandten musterte. Nach einer kurzen Pause sprach er zum dritten Mal: „Mein Sohn, dieser Weg ist nicht der Deine. Auf dich wartet ein anderes Schicksal.". Da wurde der Pfannkuchen ganz traurig und schwieg eine Weile. Endlich getraute er sich zu fragen: „Was, guter Onkel, ist dann mein Schicksal?". „Das", so antwortete dieser ihm, „wirst du herausfinden, wenn du nach Hause zurückkehrst." Mit diesen Worten verschwand er hinter einer Wolke, und der Pfannkuchen war plötzlich ganz allein.

Bedrückt kehrt er zur Bäckerei zurück, schlüpfte durch das Fenster, ging durch den Laden in die Backstube und legte sich wieder auf sein Blech. Kaum dass er seine winzigen Kulleraugen geschlossen hatte, ertönten die Glocken der Kirchturmuhr. Vier Schläge und noch einer, ein tieferer, schnitten durch die kalte, stille Nacht. Und als der letzte Ton verklungen war, war aus dem sehr lebendigen Pfannkuchen wieder ein lebloser Klumpen Teig geworden, der regungslos auf seinem Blech schlummerte.

Am nächsten Morgen öffnete der Bäckermeister wie gewohnt um sieben Uhr seine Bäckerei, und bald ging die Kundschaft ein und aus. Gegen Mittag trat ein kleines Mädchen in den Laden, das schüchtern zur Theke schritt und mit fiepsiger Stimme den dicksten, größten Pfannkuchen verlangte. Mit einem freundlichen Lächeln packte der Bäckermeister den dicken, fetten Pfannkuchen in eine Tüte und reichte sie dem strahlenden Mädchen.

Als das Mädchen daheim angekommen war, öffnete es die Tüte und legte den Pfannkuchen auf einen großen Teller. Dann setzte es sich an den Küchentisch und biss gierig in den süßen Teig hinein. Doch oh weh! Wie kreidebleich wurde es nun! Entsetzt ließ das Mädchen das Gebäckstück zurück auf den Teller fallen. Das arme Kind konnte nur an eines denken: Die rote Masse, die aus dem halb verzehrten Pfannkuchen heraustropfte, war viel zu dünn und salzig, um Marmelade zu sein..."."

Die alte Frau hatte nun aufgehört zu erzählen. Mit offenem Mund und am ganzen Körper zitternd sahen sie die beiden Kinder an. „Mütterchen.", getraute sich Greta endlich zu sagen, „Diese Geschichte war grauenvoll.".

„Das weiß ich.", sprach da die Greisin. Das warmes Lächeln, mit dem sie ihre Schützlinge betrachtete, wollte nicht so recht zu ihren kalten Silberaugen passen, in deren Inneren zwei kleine Monde schwammen. Sie hatte sich erhoben und war vom Bett zurückgetreten. Bevor sie die eiserne Kellertür verschloss und den rostigen Schlüssel im Schloss umdrehte, ergänzte sie noch: „Doch das Leben ist nun mal voller Grauen.".

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 03 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

5-Minuten-GeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt