PoV Kiara
Während die Sterne in der endlosen, dunklen Leere des Weltalls verschwinden, verschwinden meine Gedanken auch wieder in der Vergangenheit. Die fünf ersten Jahre meines Lebens auf der Erde, die Trennung von meiner Familie und der Aufbruch ins Weltall. Und all diese Gedanken kommen nur, da am Anfang des Captain-Tables immer wieder das Gleiche erzählt wird – unsere Geschichte. So wie vieles anderes geht mir in letzter Zeit auch das auf die Nerven. Immer die gleichen glorreichen Reden, dieselben Floskeln und die überschwängliche Freude über den Erfolg, die Menschheit auf Luxuskreuzern ins Weltall geschickt zu haben. Wo wir bereits seit fast achtzehn Jahren durch die Gegend fliegen und eigentlich noch keine konkreten Fortschritte gemacht haben. Seufzend reiße ich mich von dem Anblick los, denn wenn ich mich jetzt nicht fertig mache, schaffe ich es nicht pünktlich zum Event. Das dunkelgrüne Kleid, welches bereits seit einer Woche sichtbar über einem der Sessel liegt, starrt mich regelrecht schon an. Es ist schön, wirklich schön, doch eigentlich ist mir heute nicht danach ein Kleid zu tragen. Eine große Wahl habe ich allerdings nicht, da der Captains-Table etwas Besonderes ist und man dort nicht ohne formellere Kleidung auftauchen kann. Also wird es heute wohl oder übel dieses Kleid. Als Erstes binde ich mir meine Haare etwas hoch, schlüpfe in das Kleid und frische mein dezentes Make-up auf, welches anschließend nicht mehr ganz so dezent aussieht. Doch mit diesen überdimensionalen Augenringen kann ich ja auch nirgendwo hingehen. »Oh Mann«, murmle ich, als ich mich im Spiegel betrachte. Trotz des übermäßig vielen Concealers sehe ich noch immer müde und kaputt aus, traurig, leer. Make-up kann also doch nicht alles verstecken. Kopfschüttelnd wende ich mich von dem Spiegel ab, meine Augen erinnern mich so sehr an meinen Bruder und ich vermisse ihn sehr. Und man kann mir sagen, was man will, er ist nicht gestorben, das spüre ich einfach. Wäre mein Zwillingsbruder gestorben, würde ich es doch irgendwie in meinem Inneren spüren, oder? Es fühlt sich einfach nicht so an, als wäre er nicht mehr da, doch genau deshalb halten mich alle für verrückt. Ich weiß noch genau, wie das Gespräch vor zwei Wochen ablief, obwohl ich es am liebsten verdrängen würde. Das schlimmste Gespräch meines Lebens.
// Der Captain hatte mich zu sich bestellt und als ich bei der Ebene der ULS, ganz oben auf dem Schiff, ankam, warteten plötzlich einige der ganz hohen Tiere, welche man nur sehr selten zu Gesicht bekommt, der Captain und auch Professor Harlston auf mich. Dass der Captain mich überhaupt zu sich bestellt, alleine, hatte war schon sehr ungewöhnlich, doch spätestens, als ich die ganzen Menschen gesehen hatte, war mir klar, dass etwas nicht stimmte. Zu dem Zeitpunkt konnte ich mir allerdings noch nicht einmal ansatzweise ausmalen, was mich erwartet würde. Und in dem Konferenzraum wurde mir relativ schnell und recht trocken vermittelt, dass meine Eltern bei einer Explosion ums Leben kamen. Diese sei nachweislich von dem Widerstand, welcher von den Verschwörungstheoretikern gebildet wurde, als Racheakt und Sabotage der Forschungen geplant und ausgelöst. Die Leichen meiner Eltern wurden gefunden und identifiziert, doch mein Bruder war nicht aufzufinden. Er wurde kurz vor dem Gespräch als tot erklärt, da man bereits zwei Wochen vergeblich nach ihm gesucht hatte.
Mal davon abgesehen, dass man mir erst zwei Wochen nach dem Tod meiner Familie beigebracht hat, dass ich keine mehr habe, wusste ich nicht, ob ich geträumt hatte oder ob das die Realität war. Zuerst hielt ich es für einen echt schlechten und deutlich zu späten Aprilscherz, so trocken und emotionslos wie es mir vermittelt wurde. Nachdem ich es allerdings tatsächlich realisiert habe, kam ein heftiger Nervenzusammenbruch. Es lief sogar darauf hinaus, dass Professor Harlston mir ein Beruhigungsmittel spritzen musste und ich erst auf der Krankenstation wieder aufgewacht bin, völlig verwirrt und aufgewühlt. Anschließend habe ich fast das gleiche Gespräch noch einmal gehabt, da ich wirklich dachte, es sei nur ein furchtbarer Traum gewesen. Allerdings hatte Professor Harlston wenigstens Emotionen gezeigt und mir damit schon ein wenig geholfen, wenn man es denn so nennen kann. //
Aber wer hätte nicht so reagiert? Die meisten jungen Menschen und Kinder haben bereits große Teile ihrer Familie durch die Katastrophen auf der Erde verloren und ich habe den Rest von meiner nun auch noch verloren, und zwar an einen Racheakt von Menschen, die nicht einsehen wollen, dass Menschen wie meine Eltern nach einer Lösung suchen, einer Lösung um wieder vernünftig leben zu können. Wir wurden ja nicht ohne Grund ins Weltall geschickt. Aber darüber habe ich mir in den letzten zwei Wochen genug Gedanken gemacht, ich sollte wirklich versuchen wieder aus meiner unsichtbaren Blase rauszukommen, meine Eltern hätten sicherlich auch nicht gewollt das ich mich so sehr abschotte. Leicht ist es trotzdem überhaupt nicht, egal welchen Weg ich gehen werde. Mein Weg jetzt führt allerdings erstmal aus meiner Kabine raus und hoch zu dem Festsaal der ULS, wo sich bereits einige Menschen eingefunden haben. In der Eingangshalle zum Festsaal prankt in Gold ganz groß der Schriftzug „United Legacy Society" auf dem Boden. Mit dem dazugehörigen Logo. Es wirkt schon protzig und echt übertrieben, aber was erwartet man auch? Sie haben die Menschheit gerettet und da kann man teilweise schon etwas überheblich werden. Die Chefetage habe ich bisher nur bei Konferenzen die übertragen wurden gesehen, bei dem Gespräch und ganz, ganz besonderen Anlässen. Ich mag keinen von ihnen. Es ist einfach so ein Gefühl. Hoffentlich ist keiner von ihnen heute dabei. Und erneut merke ich, dass ich in meinen Gedanken versunken bin. Um ehrlich zu sein ist es schon fast ein Wunder, dass ich jetzt grade noch pünktlich eingetroffen bin und mich nicht schon wieder in meinen Gedanken verloren in den Gängen verlaufen habe. »Kiara, Liebes, es ist so schön dich heute hier zu sehen«, Captain Matthew schenkt mir ein warmes Lächeln und begrüßt weitere Gäste, welche nach und nach eintreffen. Professor Harlston ist ebenfalls bereits hier, genauso wie Rayne. Diese kommt mit einem herzlichen, aber auch traurigen Lächeln auf mich zu. »Schön, dass du heute hier bist«, sie schließt mich in eine feste Umarmung und es scheint, als würde sie mich gar nicht mehr loslassen wollen. »Ich hab es mehreren Menschen versprochen, heute herzukommen. Aber wenn ich nicht mehr mag, gehe ich!«, stelle ich direkt klar. »Das ist auch völlig okay! Vielleicht überrascht dich dieser Abend aber auch«, mit einem Zwinkern und einem verschmitztem Lächeln begibt sie sich zurück zu ihren Gesprächspartnern. Ich denke, ich sollte die anfängliche Ruhe jetzt genießen, ich werde noch genug Gesellschaft haben heute Abend, mit Sicherheit. Und wenn mir diese auf der Nerven gehen sollte, bin ich eben wieder weg. Also begebe auch ich mich unter die Menschen hier und begrüße erstmal hier und da ein paar bekannte Gesichter. So ziemlich alle die mit mir aufgewachsen sind, schauen mich freundlich und teils mit leuchtenden Augen an, dass ich meine Kabine wieder verlassen habe. Sie können mich auch am ehesten verstehen, da viele von ihnen ihre Familie bereits verloren haben. Nur die älteren schauen mich mitleidig an, etwas verloren, als wüssten sie nicht wie sie jetzt mit mir umgehen sollen. Das macht einen doch echt wahnsinnig! Seufzend setze ich mich an den langen Glastisch in der Mitte des Saals, wo mein Namenskärtchen seinen Platz hat. Hoffentlich hat Damian recht und es passiert noch etwas Lustiges, sonst sehe ich Schwarz für den Abend. Oder ich sehe mich schon vom Sekt betrunken, weil ich es ohne hier nicht lange aushalten werde. Dann würde ich vermutlich auch viel Lachen, vermutlich über die banalsten Dinge, was aber eher zum Leidwesen der anderen wäre. Nachdem so ziemlich alle eingetroffen sind, ich mich mit noch keinem weiteren Menschen unterhalten habe und der Captain ebenfalls an dem Tisch platz nimmt, ist meine Laune noch mehr in den Keller gesunken. Ich wünschte, ich hätte Ohrenstöpsel für die Einführungsrede hier! Mit einem Blick zu Rayne, welche mich als meine beste Freundin am besten kennt, weiß sie sofort, was ich denke. Und zum Glück denkt sie genauso. Sie hasst diese Reden ebenfalls und ist auch der Meinung, dass das alles total übertrieben ist und die ULS sich wirklich als die Erretter der gesamten Menschheit darstellt. Ja, sie haben einen sehr großen Teil dazu beigetragen, allerdings sind es nicht die Führungskräfte, die eine Lösung suchen, sondern all die Wissenschaftler. Und diese haben vorher alleine gearbeitet, ohne die ULS. Und das wird in diesen Reden immer total heruntergespielt.
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Scherbenseele
Teen Fiction»Ich kann nicht glauben, dass noch immer keine Lösung gefunden wurde. Stattdessen wird es immer schlimmer.« Die Erde sieht furchtbar aus, wie ein völlig fremder Planet, welcher so gut wie nicht mehr bewohnbar ist für die Menschen, die all die Katast...