3.

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„Es ist spät."

Ich hatte nicht bemerkt, dass meine Mutter mein Zimmer betreten hatte. Sie trug noch ihre Arbeitsklamotten, da sie wieder einmal Nachtschicht im Krankenhaus gehabt hatte. Die dunklen Ringe unter ihren haselnussbraunen Augen verrieten, wie müde sie war. Ihre dunkelbraunen Locken hatten sich bereits aus dem nachlässigen Knoten gelöst, den sie sich gebunden hatte, und umrahmten nun zerzaust ihr braungebranntes, von Lachfältchen gezeichnetes Gesicht.

„Mami, ach, komm schon. Nur noch das Kapitel."

„Nein.", meine Mutter blieb hart. Auffordernd blickte sie zu Benton, der sich leise lachend von meinem Bett aufrichtete.

„Wir lesen morgen weiter, okay?"

Ich sah ihn unglücklich an, bevor ich Mutter einen bösen Blick zuwarf. „Du bist so fies. Was machen schon zehn Minuten?"

„Ida, ich diskutiere nicht mit dir.", Mutter verdrehte genervt die Augen und verließ mein Zimmer, in der festen Erwartung, dass Benton ihr folgen würde. Doch der drehte sich noch einmal zu mir um und betrachtete mich mit einem leichten Lächeln, das kleine Fältchen um seine Augen herum erscheinen ließ.

„Was ist?", fragte ich und stopfte mir ein zweites Kissen unter den Kopf, während ich die Bettdecke zu Recht zupfte.

„Weißt du noch, was ich dir neulich gesagt habe?"

„Dass ich nicht immer auf Mama hören muss?", fragte ich und zog eine Grimasse. „Jaah, klar. Du kannst das leicht sagen. Du bist fast erwachsen."

Benton warf einen Blick zur Tür und kam dann nochmal zu mir herüber. Neben meinem Bett ging er in den Hocke und sah mich mit einem ernsten Ausdruck in den Augen an. Ich mochte seine Augen, sie waren so blau wie die Edelsteine an der Haarspange, die Oma Beth mir zu meiner Taufe geschenkt hatte. Saphire.

„Das meinte ich nicht, Joida.", sagte er und ich biss mir auf die Unterlippe. Er nannte mich nur bei meinem vollen Namen, wenn er wütend auf mich war oder wenn er mir etwas sagen wollte, das ihm wirklich wichtig war.

„Erinnerst du dich daran, als ich dir von diesen Träumen erzählt habe?"

Ich runzelte die Stirn. „Was ist damit?"

„Du musst mir versprechen, dass du niemandem davon erzählst, in Ordnung?"

„Jaa- natürlich. Aber..."

„Was habe ich gesagt? Benton, jetzt wird es aber wirklich Zeit!", ich zuckte zusammen, als meine Mutter plötzlich wieder in der Tür stand, die Stirn ärgerlich gerunzelt. Benton hob grinsend die Hände und drückte mir einen kurzen Kuss auf die Stirn, bevor er schließlich mein Zimmer verließ. Mama sah ihm mit einem Gesichtsausdruck hinterher, den ich nicht richtig einordnen konnte.

„Ich schlaf ja schon.", murrte ich.

Meine Mutter seufzte und die Falten auf ihrer Stirn verschwanden langsam wieder. Sie ging zu mir herüber und strich mir sanft das Haar aus der Stirn. „Gute Nacht, Süße."

Ich schloss die Augen und gab mich meinem Schicksal endgültig geschlagen. „Nacht, Mama."

Als ich erwachte, fühlte ich einen starken Stich im Herzen. Der Verlust schmerzte so sehr, immer noch, nach all der Zeit. Ich konnte in diesem Augenblick noch nicht einmal ansatzweise verarbeiten, was es bedeutete, dass Vater jetzt ebenfalls tot war.

Ich öffnete die Augen und registrierte erst in dem Moment, dass mein Oberkörper im Schlaf zur Seite gesunken war und meine Wange auf seiner Brust ruhte.

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