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„Er braucht einen Arzt.", keuchte ich entsetzt. Panisch sah ich von der Schusswunde in Jaspers Oberschenkel auf und mein Blick traf auf seine kalten, dunkelblauen Augen.

Er lehnte mit ausdrucksloser Miene an der geschlossen Fahrertür.

Ich hatte Jasper auf den Rücksitz geschafft, wo er jetzt mit schmerzverzerrter Miene lag, das verletzte Bein ausgestreckt vor sich.

„Bitte", setzte ich wimmernd hinzu.

Da reagierte er endlich. Er zog mich an den Haaren aus der Hocke hinauf und drückte meinen Kopf gegen das Auto. Der rostige Lack des Trucks presste sich gegen meine Wange. „Das hier", zischte er mir ins Ohr. „ist allein deine Schuld. Wenn dein Bruder es nicht überlebt, dann musst du dir dessen immer bewusst sein, Süße."

Abrupt ließ er mich los und ich schluckte krampfhaft. Meine Hände zitterten unkontrolliert und meine Gedanken rasten wirr durch meinen Kopf. Konzentriere dich, Ida.

Ich brauchte etwas zum Verbinden der Wunde. Ich musste die Blutung irgendwie stoppen.

Der Verbandskasten im Kofferraum! Während ich die Kofferraumklappe des Trucks aufriss und hektisch danach suchte, versuchte ich mich daran zu ersinnen, wie man einen Druckverband anlegte. Endlich fand ich den Koffer und fummelte fahrig an dem Verschluss herum, bis ich ihn schließlich offen hatte. Ich erblickte ein Pflasterset, zwei Verbandpäckchen und ein Päckchen mit Wundkompressen. Das war verdammt wenig. Ich versuchte, ruhig zu atmen, aber es misslang mir kläglich. Ich packte den Koffer und ging damit zurück zu Jasper, dessen Gesicht sich gespenstisch weiß gegen seine wirren, schwarzen Locken abhob. Ich registrierte die feinen Schweißtropfen auf seiner Stirn und meine Angst wuchs.

„Okay", sagte ich keuchend, während ich den Koffer im Fußraum des Autos ablegte. „Ich...ich muss das irgendwie verbinden."

Ich versuchte die Packung des Verbandes zu öffnen, aber meine Hände zitterten so sehr, dass das Päckchen immer wieder meinem Griff entglitt. Als ich es endlich geschafft hatte, ging Jaspers Atem beängstigend flach.

Ich riss die Wundkompressen aus ihrer Verpackung und legte sie auf Jaspers Wunde. Die Geschwindigkeit, mit der sich der weiße Stoff rot verfärbte, ließ Verzweiflung in mir aufkeimen. Als nächstes druckte ich das ungeöffnete Verbandpäckchen auf die Wundkompressen und wickelte mit ungeschickten Fingern den Verband darum.

Jaspers atmete scharf ein und ich riss den Kopf hoch, um ihn anzuschauen. „Was ist? Habe ich es zu fest herumgewickelt?"

„Nein, es...geht schon.", antwortete er und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. „Es brennt nur."

Es war ein Durchschuss, oder nicht? Was, wenn die Kugel noch in seinem Bein steckte? Übelkeit befiel mich und ich musste einige Male durchatmen, um wieder deutlich sehen zu können.

„Ist dir kalt?", fragte ich meinen Bruder und drückte seine Hand. „Du k-könntest einen Schock haben."

Er schüttelte den Kopf, die Augen geschlossen. Die feinen Sommersprossen auf und um seine schmale Nase herum schienen die einzigen Farbtupfer in seinem farblosen Gesicht zu sein, seine schwarzen Locken klebten ihm verschwitzt an den Schläfen. Als ich ihn anblickte, wurde mir plötzlich bewusst, wie jung Jasper noch war. Er war nur zwei Jahre älter als ich, doch die Tatsache, dass er in den letzten Jahren wie selbstverständlich fast die gesamte Verantwortung über mich übernommen hatte, ließ mich das öfters vergessen. Er war da gewesen für mich, als es Dad nicht konnte, hatte sich um alles gekümmert, und irgendwie hatte er nie damit aufgehört.

Es ist meine Schuld. Der Gedanke explodierte mit einer Wucht in meinem Kopf, die mein Herz zum Stolpern brachte. Es war so unglaublich dumm gewesen, ihn zu reizen.

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