Angst

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POV: Anokha
"Sei immer misstrauisch und denke nie, du bist sicher! Gefahr ist noch schlimmer wenn du glaubtest,du bist sicher, als wenn du von vornherein von Gefahr ausgegangen bist..."
Mama's letzte Worte, bevor ich unsere Hütte verlassen hatte, schwirrten in meinem Kopf herum, während ich allein, mitten auf den Weg stand und weinte.
Ich hatte Angst und wusste nicht einmal wirklich wovor. Davor dass ich noch einmal vergewaltigt werden könnte? Davor dass ich nun schwanger sein könnte? Davor dass ich vielleicht zurück nach Indien musste, wenn ich schwanger war? Ich müsste dem Kind schließlich ein zu Hause und Bildung bieten können und das ging nicht ohne Staatsbürgerschaft, glaube ich. Allerdings wusste ich auch nicht wie das hier in Deutschland geregelt ist. Und ich würde auch nicht schwanger sein. Ich durfte nicht schwanger sein.
Angst ist ein Gefühl, das Menschen vor möglichen Gefahren schützen soll. Allerdings kann man Gefahr doch in den meisten Fällen nicht selbst beeinflussen. Wenn man die Angst versuchen würde in einem Lebewesen zu charakterisieren, hätte wahrscheinlich jeder eine unterschiedlich Vorstellung von diesem Lebewesen und es würden sehr viele sehr verschiedene Lebewesen dabei heraus kommen. Aber wenn ich mir ein Lebewesen vorstellen würde, sähe es aus wie ein kleines, schwarzes Rußmänchen aus Chihiros Reise ins Zauberland und es könnte dann in die Menschen eindringen, wenn diese es zulassen würde und sich dann im Menschen immer weiter außbreiten, wenn es dies geschafft hatte. Und irgendwann ist der Mensch dann vollkommen von der Angst eingenommen. Er handelt aus Angst. Er denkt durch Angst. Er sieht vor seinem inneren Auge, was ihm Angst macht.
Chihiros Reise ins Zauberland war der erste und bis jetzt einzige Film den ich in meinem Leben guschaut habe. Das war bei einem reichen Mann bei dem ich in Indien Hausmädchen war. Ich habe in seinem Haus auch gewohnt. An jenem Tag waren er und seine Frau weg und ich sollte auf die Kinder aufpassen, also habe ich mit ihnen diesen Film geguckt.
Eine Woche später hat dieser Mann mich vergewaltigt. Das war meine erste Vergewaltigung. Mit 13. Danach wollte ich endgültig mein Leben ändern und ich habe mehrere Jobs angenommen und gesparrt und gesparrt bis ich endlich genug Geld hatte für den Flug. Damals dachte ich, dass sei ein großer Schritt aus meinem Leben heraus und weg von der ständigen Angst. Aber jetzt stehe ich an der selben stelle, wie vor vier Jahren als ich genauso alleine auf einer Straße stand und weinte. Es hat sich noch nichts verändert.
Ich hatte versagt. In allem. Ich hatte Mama's Ratschläge missachtet, denn ich hatte mich sicher gefühlt hier in Deutschland. Sicherer als in Indien auch wenn das Leben hier auf der Straße hart war. Und ich hatte meine eigenen Vorsätze missachted. Ich hatte mir seit einem Monat verboten Nachts zu schlafen, auch wenn ich es nicht immer geschafft habe. So wie in dieser Nacht.
Und das hatte der Typ grade ausgenutzt, sodass ich nicht schreien konnte bevor er seine Hand auf meinen Mund gepresst hat, meinen Sari (indisches Gewand) und den Unterockauf aufriss und... Naja.
Ich konnte das alles nicht mehr, Ich würde es alleine nie schaffen... Und wieder einmal glaubte die Welt mich erdrücken zu können. Ich gab ihr nach und fiel auf die Knie. Ich weinte. Mein ganzes Leben lang musste ich schon meine Welt allein auf meinen Schultern tragen. Ich hab immer versucht meine Welt aufrichtig zu tragen doch solche Dinge wie grade machten meine Welt immer schwerer.
Was war bloß los mit mir? Normalerweise würde ich nie so selbst bemitleidend, auf einem verlassenen Weg knien, wenn mal wieder eines dieser beschwerenden Dinge passiert war. Aber es tat irgendwie gut nachzugeben. Oder aufzugeben? Ich weiß es nicht...
Ich blieb einfach weiter auf diesem Weg sitzen und weinte. Bis ich plötzlich eine vorsichtige Stimme hörte, die fragte: "Äh...kann ich dir irgendwie helfen?"

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