POV:Luna
Sie war unfassbar dünn. Da wo ihre Knochen deutlich ervorstanden hatte sie teilweise Schürfwunden, die verdreckt waren, so wie der Rest ihres Körpers auch. Ihre Haut hatte einen eher dunklen Teint, ich würde sie aber noch nicht wirklich als dunkelhäutig einstufen. Ihre Haare hingen ihr in langen, verfilzten und dreckverklebten Strähnen bis zum Po.
Schnell stieg sie in die Wanne und setzte sich. Man konnte förmlich spüren wie sich die Freude in ihr ausbreitete. Sie freute sich wie ein kleines Mädchen, das zum ersten mal in seinem Leben Schnee sah und genauso behandelte sie den Schaum. Wenn ihr euch das jetzt vorstellen könnt, wisst ihr wie süß sie in diesem Moment war. Sie schien vom Charakter ein ganz anderer Mensch zu sein: ein kleines Mädchen ohne Probleme. Ja, Ich glaube, in diesem Moment hatte sie kurz all ihre Probleme vergessen.
Als sie sah, dass ich sie anlächelte, lächelte sie zurück. Es war ein "Danke-Lächeln".
"Wie heißt du?"
"Äh... Anokha."
"Ich bin Luna", sagte ich lächelnd. Eigentlich, hasste ich solche Dauerlächler die immer auf supermegagalaktisch sympatisch tun und in den meisten Fällen das Gegenteil waren. Aber bei Anokha hatte ich einfach das Gefühl, ich musste sie so nett wie möglich behandeln schon allein, weil sie so wehrlos aussah.
Ich fing an ihren Rücken zu waschen und die Wunden gleichzeitig ein bisschen zu reinigen, während sie sich darauf konzentrierte den Schmerz auszuhalten.
"Woher kommst du? Also ursprünglich?", fragte ich sie weil es mich wirklich interessierte.
"Ich hab bis vor kurzem in Indien gelebt."
"Und jetzt lebst du hier auf der Straße?"
"Ich hab auch schon in Indien immer mal wieder auf der Straße geschlafen, aber da gab es immer auch die Möglichkeit zu meiner Mutter und meinen Geschwistern zurückzugehen", antwortete Anokha verlegen. Ich merkte, dass es ihr unangenehm war, über sich zu reden.
"Sind sie nicht mit gekommen?"
"Nein", sie lachte so ein komisches, trauriges Lachen, "Sie hatten ja nicht mal Geld mich zu Hause zu versorgen, wie sollen sie dan Geld für einen Flug haben. Ich bin meiner Mutter aber nicht böse oder so. Sie hat immer das getan, was sie konnte..."
"Und jetzt bist du hier ganz alleine. Was ist mit deinem Vater?"
Schon wieder lachte sie dieses Lachen. "Das einzige, was ich weiß ist, dass er Europäar ist und in Indien im Urlaub war. Er hat in dem Hotel gewohnt in dem meine Mutter als Zimmermädchen gearbeitet hat. Mehr weiß ich nicht."
Deshalb war sie also nicht ganz so dunkelhäutig. Und auch ihre Augen musste sie von ihrem Vater haben. Auf den erstenblick schienen sie ganz normal, dunkel zu sein, passend zum Rest ihres Körpers. Aber beim näheren Hinsehen konnte man erkennen, dass sie nicht normal, dunkelbraun waren, sonder seltsam dunkelgrau. Und wenn sie hochschaute, sodass das Licht ihre Augen erreichen konnte, sah man die kleinen, dunkelgrünen Felder und ein paar hellbraune Maserungen. Ja, ich schaute mir gerne und sehr genau Augen an, weil sie einfach bei jedem Menschen anders und irgendwie immer schön sind. Und ich liebte es an Hand der Augen die Charaktereigenschaften des Menschen einzuschätzen und mich dann vielleicht zu freuen wenn ich richtig lag.
Bei Anokha's Augen musste sie also relativ viele verschiedene Eigenschaften haben. Grau assoziiere ich immer mit besonderer Stärke und Schwäche, denn ich habe die Theorie, dass jeder der sehr stark ist und stark sein muss, ob für sich selbst oder für andere, ist auch immer irgendwo besonders schwach. Und jeder schwach ist, muss auch irgendwo stark sein, um sich von der schwäche nicht unterkriegen zulassen und generell kann ein Mensch nicht in allem schwach oder in allem stark sein. Die grünen Flecken in ihren augen stehen vielleicht für Hoffnung und die kantigen braunen striche sind ihre Erfahrungen, die sie geprägt haben und sich immer mal wieder einen Weg durch ihre Hoffnung und ihre Stärke/Schwäche gebahnt haben. Klingt vielleicht alles etwas weit hergeholt, aber ich liebte das weithergeholte und viel zu unrealistische.
Als ihr Körper sauber war und ich ihre Haare schon einmal gewaschen hatte-was eindeutig noch nicht ausreichte- stieg sie vorsichtig aus der Wanne, trocknete sich ab und zog Boxershorts, Jogginghose und Pullover von den Jungs an, die ihr natürlich viel zu groß waren. Man sah ihr an wie wohl sie sich in den sauberen, weichen Klamotten fühlte.
"So jetzt sind deine Haare dran. Hast du etwas dagegen, wenn ich sie etwas kürzer mache, sodass ich sie besser durchkämmen kann? Sagen wir ungefähr bis unter die Brust?", fragte ich und hoffte, dass ich ihre Haare irgendwie bendigen kann. Sie stimmte zu und ich glaubte, ein wenig Freude in ihrer Stimme zu hören.
Also machte ich schön viel spülung in ihre Haare, kämmte sie ersteinmal grob um dann die verfilzten Enden abzuschneiden. Dann konnte ich sie richtig durchkämmen, wusch die Spülung aus und schnitt sie nocheinmal erst auf gleiche Länge und dann noch ein paar Stufen, so wie ich es auch immer bei mir selbst machte. Während die Haare trockneten machte ich noch ihre fuß- und fingernägel, zupfte ihre Augenbrauen und gab ihr Cremes für Gesicht und Hände.
Es machte mir Spaß, ihre Veränderung zu beobachten und zu sehen, wie sie sich über ihre gesunden, weichen Haare freute oder über die schön geformten Fingernägel. Ich merkte, wie sie sich immer wohler in ihrem Körper fühlte und auch immer offener mir gegenüber wurde.
Als wir fertig waren, betrachtete sich Anokha mit einer Mischung aus Schock, Faszination und Glück im Badezimmerspiegel. Ich stand schräg hinter ihr und betrachtete ebenfalls ihr Gesicht und ich muss sagen, ich habe wirklich gute Arbeit geleistet. Ihr Gesicht war echt hübsch: symetrisch, hohe Wangenknochen, große Augen, Stupsnase. Allerdings sah man ihren Augen immer noch an, dass sie geweint hatte. Das war mir schon vorher aufgefallen ich wusste aber nicht, ob ich sie darauf ansprechen sollte. Hatte es vielleicht etwas mit den Wunden am Rücken zu tun? Ich traute mich nicht zu fragen, schließlich ging es mich überhaupt nichts an, weshalb sie weinte und woher die Wunden kamen. Aber es könnte wirklich sein, dass ihr etwas schlimmes angetan wurde, schließlich bekommt man nicht einfachso Schürfwunden und blaue Flecken am Rücken. Am Ende meiner innerlichen Konfrontation siegte dann meine Neugier:"Hey Anokha... Warum hast du geweint?"
Scheiße, sie schaute betrübt nach unten. Es war doch klar, dass sie so regieren würde, Luna! Jetzt hast du das ganze Vertrauen, das du grade erst aufgebaut hast wieder zerstörrt!
"Du musst es mir natürlich nicht erzählen, es geht mich auch eigentlich nichts an. Wir kennen uns ja erst seit einer halben Stunde oder so, aber ich dachte, es könnte vielleicht irgendwie mit den Wunden auf deinem Rücken zusammenhängen. Vielleicht willst du es ja jemandem erzählen... Und vielleicht kann ich dir helfen." Ich versuchte mich irgendwie aus dieser Situation zu retten und damit auch unser Vertrauen zu retten, während sie mir abgewand mit gesenktem Blick einfach so da stand.
"Du kannst mir nicht helfen", sagte sie mit unheimlich leiser Stimme.
"Sag mir wenigstens, was passiert ist. Vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit." Sie sagte nichts. "Anokha... Was ist passiert?"
Sie drehte sich um, schaute mich aber immer noch nicht an.
"Ich hab geschlafen", sie brach in Tränen aus, "auf einer Parkbank. Ich wollte nicht schlafen, ich hab's mir verboten und dann war er plötzlich da, und hat seine Hand auf meinen Mund gepresst. Ich wollte mich noch aufrichten, aber er hat mich einfach zurück auf die Bank geschubst. Als wär ich nichts. Ich hab mich so schwach gefühlt. Ich konnte mich nicht wehren. Während er das... Gemacht hat, hat er mich mit seinem ganzen Gewicht auf die Bank gedrückt, deshalb wahrscheinlich die Wunden am Rücken... Es war so.. entwürdigend..." Sie sank an der Wand zusammen. Ich hockte mich neben sie.
"Konntest du den Mann erkennen? weißt du noch wie er aussah?"
"Nein... Sein Gesicht war verdeckt."
Ich überlegte, doch hatte keinen blassen schimmer, was ich tun sollte.
"War es kurz bevor Taddl dich gefunden hatte?" Sie nickte.
"Wir sollten ins Krankenhaus", sagte ich entschlossen und stand schon auf, da ich mir sicher war, dass das die beste Entscheidung sein würde.
Doch sie schaute mir plötzlich und mit festem Blick in die Augen.
"Nein. Da kann ich nicht hin.", sagte sie mit ungewohnt lauter Stimme.
Ich verstand nicht direkt, was sie damit meinte, und warum sie nicht ins Krankenhaus wollte, also versuchte ich sie weiter von meinem Plan zu überzeugen.
"Doch, die Leute dort können dir Helfen und vielleicht feststellen, wer der Mann war. Und sie können feststellen ob du schwanger bist." Ich wurde immer überzeugter von meinem Plan doch sie stand nur auf, schüttelte den Kopf und sagte: "Ich bin nicht schwanger" in einem Tonfall der mir schon fast Angst machte.
"Da kann man sich nie hundertprozentig sicher sein. Wir sollten das wirklich überprüfen lassen, Anokha."
Und dann schrie sie, sie sei nicht schwanger, rannte zu Tür und versuchte diese aufzureißen, aber sie war noch abgeschlossen. Also friemelte sie nervös am Schloss herum bis die Tür auf ging und rannte hinaus. Ich hörte wie sie die Wohnungstür aufriss und das Trppenhaus hinunter rannte. Ich blieb völlig perplex, wie versteinert im Badezimmer stehen.
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Fliegen lernen
RandomAnokha ist vor einem Monat aus Indien nach Deutschland (Köln) geflohen. Sie ist vor Gewalt und Unterdrückung gegen Frauen und Mädchen geflohen und steckt in diese Stadt ihr letztes Stückchen Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch gerade hier lernt si...