𝐒𝐞𝐜𝐡𝐳𝐞𝐡𝐧

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-Kevin-

Unruhig wälzte ich mich in meinem Bett hin und her. Jedes Mal, wenn meine Augen endlich zu fielen, kam wieder diese panische Angst in mir auf, dass sich Bastis Zustand verschlechtert hatte.
Unser letztes Gespräch war nun etwas mehr als fünfundzwanzig Stunden her. Nachdem ich gestern Abend nach dem Telefonat mit Onis kleinem Bruder um 21 Uhr wieder nach Hause gefahren war und um etwa 22 Uhr für etwas mehr als eine halbe Stunde auf Bastis Kanal gestreamt hatte, lag ich trotz meiner Stundenlangen Versuche, einzuschlafen, trotzdem die ganze Nacht wach.
Und nun war es 10:48 am Morgen und ich hatte so langsam wirklich das Bedürfnis, zu schlafen.
Doch natürlich konnten meine Gedanken nicht mal zehn Minuten Ruhe geben.

Laut Oni war es mittlerweile so gut wie sicher, dass Basti die Verletzungen überlebte, aber trotzdem bestand immer noch die winzige Möglichkeit, dass er es nicht schaffte.
Wenn Basti sterben würde, würde ich mir vermutlich bis in alle Ewigkeit die Schuld dafür geben, egal was andere mir sagten.
Ich würde mich selber hassen und vermutlich würde ich es nie wieder schaffen, Gefühle für jemanden zu entwickeln, und vor allem zuzulassen.
Die Angst vor den Vorwürfen, die er mir -zurecht- machen - würde, wenn er mich nach dem Aufwachen das erste Mal wieder sah war genauso da.
Ich wusste nicht, ob Basti genau so weiter machen konnte wie davor, denn was, wenn er irgendwelche bleibenden Verletzungen davontrug? Was war zum Beispiel, wenn er querschnittsgelähmt sein würde.
Egal was passierte, ich würde immer mir dir größte Schuld geben, denn wenn ich ihn nicht während dem Autofahren abgelenkt hätte, wäre er vielleicht komplett wohlauf in Berlin angekommen.
Halt- wenn ich schnell genug reagiert hätte, als Masha mich geküsst hatte, dann wäre Basti niemals verletzt gewesen und hätte keinen Grund gehabt, früher zu gehen.
Dann würden wir jetzt gerade wahrscheinlich miteinander schreiben oder telefonieren und überlegen, wann wir und das nächste Mal treffen konnten.
Mit viel zu vielen Gedanken in meinem Kopf driftete ich schließlich doch noch in einen unruhigen Schlaf.

~~~

Es war fast 14 Uhr, als ich bereits zum neunten Mal aus einem Traum hochschreckte. Anfangs dachte ich noch darüber noch, noch einmal zu versuchen, weiter zu schlafen, schlussendlich überredete ich mich aber doch dazu, aufzustehen und irgendetwas zu machen.
Eigentlich hatte ich mit erhofft, wenigstens im Schlaf für ein paar Stunden eine Zuflucht zu finden, aber falsch gedacht: Meine Träume waren wirr und beängstigend und ich wachte eh alle fünfzehn Minuten wieder auf.

Völlig übermüdet schleppte ich mich in die Küche und machte mir einen Kaffee. Ich schüttete mit eine kleine Portion Cornflakes und Milch in eine Schüssel und setzte mich damit an den Esstisch.
Das letzte Mal, als ich hier saß, saßen Basti und ich uns gegenüber und er hatte versucht mich zu ärgern, indem er meine Cornflakes wegschnappte. Sein erst schadenfrohes Kichern und sein darauffolgendes ausgelassenes Lachen halten immer noch in meinen Ohren wieder. In mir zog sich etwas schmerzhaft zusammen.
Wenn das Glück nicht auf unserer Seite war, würden Basti und ich nie wieder etwas zusammen machen können. Ich würde nie wieder sein Lachen hören, nie wieder Stundenlang seiner Stimme lauschen können, nie wieder würden wir uns gegenseitig übereinander lustig machen können.
Und nicht nur ich würde daran kaputt gehen, wenn Basti nicht überleben würde. Für Oni würde eine Welt zusammenbrechen und für die große Schwester der beiden ebenso. Ich wusste nicht viel über Bastis große Schwester, nur dass er eine hatte und dass diese schon seit vielen Jahren im Ausland lebte. Und ich wusste von Basti, dass sie trotz der Entfernung ein gutes Verhältnis hatten, auch wenn sie sie nicht oft sprachen. Trotz der vielen Differenzen und des nicht gerade einfachen Verhältnisses würde auch für Bastis Eltern eine Welt kaputt gehen. Und natürlich auch für höchstwahrscheinlich so gut wie jeden seiner Freunde. Ich wusste, dass es selbst seine Zuschauer treffen würde, manche würde es mehr berühren, manche weniger.
Ich schüttelte den Kopf. Ich durfte so nicht denken. Oni hatte klar und deutlich gesagt, dass seine Werte stabil waren und dass seine Überlebenschancen fast komplett sicher waren.

Nachdem ich nach einer gefühlten Ewigkeit, welche eigentlich nicht mal zehn Minuten betrug, mit meinem Frühstück, falls man das um diese Uhrzeit noch so nennen konnte, fertig war, beschloss ich, in den Wald zu gehen. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich die Ruhe des Ortes nun in dieser Situation noch genauso genießen konnte, nachdem ich mit Basti gemeinsam dort war.
Ich ging ins Bad und putze mir die Zähne. Als ich in den Spiegel sah, erschrak ich fast vor mir selber. Ich sah ja wirklich nicht selten verschlafen oder müde aus, doch so schlimm wie gerade eben war es schon lange nicht mehr. Meine Augen waren vom Weinen gerötet verquollen und unter ihnen lagen dunkle Schatten. Meine Haare, die in alle Richtungen abstanden, sahen komplett zerzaust aus und meine Haut war ungewöhnlich blass.
„Mann Basti, was machst du bloß für Sachen?", murmelte ich.

Nachdem ich meine Zähne geputzt, geduscht und versucht hatte, meine Augenringe wenigstens etwas zu kaschieren, trat ich nach draußen. Es war ein sonniger Tag und die Temperaturen betrugen locker 30 Grad. Das Wetter passte absolut nicht zu meiner Stimmung.
Zu Fuß hätte ich vermutlich auch nicht allzu lange gebraucht, bis ich aus der Stadt raus war, aber erstens war es nicht wirklich der schönste Weg und zweitens hatte ich gerade absolut gar keine Lust, von Personen erkannt zu werden.
Deshalb stieg ich nun auch in mein Auto ein und startete den Motor.

Heute hatte ich zum Glück mehr Glück, was den Verkehr anbelangte, und so brauchte ich heute nur knappe zwanzig Minuten. Ich parkte meinen Wagen an einem kleinen Parkplatz, wenn man die Schotterfläche, in welcher die Abzweigung der Straße in Richtung Wald endete.
Von dort aus hatte ich noch zirka zehn Minuten Fußweg, doch an diesem Tag nahm ich mir bewusst mehr Zeit, da ich irgendwie der Meinung war, mich von den Geschehnissen ablenken zu können, wenn ich die Natur mehr genoss.
Im Schatten der vielen Kiefern und Tannen war es um einiges kühler als in der prallen Sonne. Ich war echt froh darüber, mir einen Hoodie mitgenommen zu haben.
Entfernt hörte ich einen Vogel kreischen und irgendwo hämmerte ein Specht in den Stamm eines Baumes. Durch den leichten Wind, welcher selbst hier wehte, raschelten die Blätter der vereinzelten Laubbäume, die es hier gab.
Mir war noch nie aufgefallen, wie viele verschiedene Blumen auf dem moosigen Waldboden wuchsen. Ebenso wenig war mir bisher der angenehme Geruch nach frischem Lehm aufgefallen.
Irgendwann kam auch das Plätschern des kleinen Baches, welcher auch an der Lichtung vorbeifloss, zu meinen Eindrücken dazu.
Ich folgte dem Bach, dessen Wasser erstaunlich klar war fast automatisch und gelangte keine drei Minuten später am Rande der Lichtung an. Ich lief den kleinen Hügel hoch und ließ mich schlussendlich am Stamm der großen Fichte im Zentrum der Lichtung zu Boden gleiten.
Das letzte Mal als ich hier saß, hielt Basti mich fest in seinen Armen und ich sagte ihm das erste Mal wortwörtlich, dass ich ihn liebte.

In meiner Brust fühlte ich einen schmerzhaften Stich. Nun war ich allein.
Ich war nicht wirklich gläubig, trotzdem betete ich zu allem, was dort oben war- oder eben auch nicht-, dass Basti wieder aufwachte, und dass das zwischen uns noch mal eine Chance bekam.
Ich schloss die Augen und lehnte den Kopf in den Nacken. Die Sonne wärme mein Gesicht. Alles hier war so friedlich. Ich wünschte, der Tag wäre es für mich und Basti auch.
Irgendwie musste ich doch auf andere Gedanken kommen können. Ich überlegte, was ich heute Abend in Bastis Stream machen konnte. Es war schon verdammt merkwürdig, seinen Stream zu planen und über seinen Kanal zu streamen.
Und wieder war ich mit den Gedanken bei der aktuellen Situation.

Nach einigen weiteren Versuchen, mich abzulenken, welche unter anderem aus Gedanken über meinen eigenen nächsten Stream und Erinnerungen an lustige Momente mit allen möglichen Freunden bestanden, sah ich ein, dass mich letztendlich immer wieder irgendetwas an die Realität erinnerte.
»Basti, ich weiß nicht wie du das machst, aber du schaffst es auf irgendeine Art und Weise, mein Leben auf den Kopf zu stellen. Sei es in einer guten Weise, oder in einer schlechten«, murmelte ich.

𝐁𝐞𝐭𝐫𝐮𝐧𝐤𝐞𝐧𝐞 𝐋𝐮̈𝐠𝐞𝐧 𝐍𝐢𝐜𝐡𝐭|| 𝐁𝐚𝐬𝐭𝐢𝐩𝐥𝐚𝐭𝐭𝐞Where stories live. Discover now