Prolog - Flucht & Tod

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Renn! Lauf und dreh dich nicht um, denn sonst finden sie dich, haben sie dich! Fangen sie dich!

Schneller und schneller wurden die Schritte, rascher trugen die müden Beine den jungen Mann durchs tiefschwarze Unterholz des Waldes, immer weiter fort von der Stadt, immer weiter fort von den hell leuchtenden Lichtern der Fackeln, die wie Geister durch die Finsternis der Nacht schweben. Immer weiter fort von dem drohenden Scheppern, dem Klappern der Schwerter, der Rüstungen - fort von dem Knurren, dem Jaulen und Bellen der Bluthunde.

Vor Stunden schon hatte er die Orientierung verloren, er wusste weder, wo Süd noch Ost lag. Wo sich Norden, noch Westen befand. Doch mag's auch kaum eine Rolle spielen. Ist es allein wichtig, den Abstand, den man glaubte, gewonnen - aufgebaut zu haben, weiterhin aufrecht zu erhalten, weiter und weiterzukommen. Der Fluss musste erreicht, musste durchquert werden. Ist er die Grenze zu diesem Land, diesem Reich. Ist die andere Seite erst einmal erreicht, konnten die hier herrschenden Gesetze ihm nichts mehr anhaben - selbst jene, die von der heiligen Mutter Kirche ausgesprochen worden waren. Den dieser Boden, das Volk, das dort lebte, so sagte man, mache sich nichts aus der Heiligen Schrift, aus den Gesetzten Gottes. Dort hausten nur Ketzer, Heiden, Gotteslästerer - Sünder! Der Abschaum der Menschheit

Doch sind sie ein freies Volk - frei zu entscheiden, zu denken, zu lieben, zu handeln - zu leben. Ohne Angst, ohne Reue.

Sollte es in einem Land, einem Reich, das in den heiligen Schoss der Mutter Kirche gebettet war, nicht ebenso sein? Sollten sich die Menschen in einem solchen Reich den nicht auch sicher und geborgen fühlen, sollte man denn nicht auch hier frei entscheiden können - wen man liebt? Und sollte man sich nicht auch hier aufgehoben und behütet, geschützt und gewärmt wie in der wohligen Umarmung der eigenen Mutter fühlen? NEIN! Stattdessen lebten die Menschen in ständiger Angst, einen Fehler zu begehen, unter den ständig wachsamen Augen jener, die dem Wort der Heiligen Schrift folgten, sie verkündeten und all jene zur Rechenschaft zogen, die in ihren Augen dagegen verstießen, ein ketzerisches, sündhaftes Leben führten.

Doch war es eine Sünde, die begangen worden war? Hatte er sich in den Augen dieses gütigen Gottes, der all seine Schäfchen ausnahmslos und ohne sie voneinander zu unterscheiden liebte, eine solch schändliche Tat schuldig gemacht, für die er den Tod verdiente? Weil er leben wollte? Weil er lieben wollte? Weil er... frei sein wollte?

Ein Brennen, höllisch stechend wie tausende von Nadeln, begann sich in der Lunge breit zu machen. Das Atmen wurde zunehmend schwerer bis man sich gezwungen fühlte, nach einigen weiteren, schleppenden Schritten, die man sich zwang, zu gehen, doch stehen zubleiben. Schwer keuchend, dem eigenen, raschen, rasselndem Atem lauschend, beugt man sich vor, um sich beruhigen zu können, doch wollt's nicht so wirklich gelingen, den er wusste, dass jeder Augenblick, den er in Stillstand verbrachte, vergeudet und riskant sein konnte. Der junge Mann wusste nicht, wie nah die Verfolger ihm waren. Ob sie nicht jeden Augenblick durch das Dickicht hervorbrechen konnten, sei es nun Mensch oder Tier - geschärfter Stahl oder gefletschte Zähne, die sich in sein Fleisch bohren würden, um ihn festzuhalten, niederzustrecken. Und so waren es nicht einmal wenige Minuten, die dem gequälten Körper geschenkt wurden, ehe dieser abermals aufgerichtet und weiter vorangetrieben wurde, die aufkommenden Schmerzen in Lunge und Gliedmaßen, in denArmen und Beinen ignorierend. Der Blick der müden, dunklen Augen war einzig undallein nach vorn gerichtet. Auf die schemenhaften Bäume, durch die sich allmählich das schummrige Licht des aufkeimenden Morgenrotes zu kämpfen begonnen hatte. Hoffnung?

Vielleicht.

Man sagte doch, wenn ein neuer Tag hereinbrach, brachte er auch neue Hoffnung mit sich - doch wusste er, dass, sobald sich die Schatten, die Dunkelheit aus diesem Wald zurückgezogen hatten, es den Männern der Inquisition nur noch leichter fallen würde, ihn ausfindig zu machen - ihre Fackeln und das Licht, das sie ihnen spendete, würden sie dann nicht mehr benötigen. Und so wurden seine Schritte nur noch schneller, noch hastiger - noch unbedachter. Und das, was vermieden werden wollte, geschah - ein Fehler, begangen in aufkeimender Panik. Die aus dem Boden herausragende Wurzel wurde übersehen und der Fuß des rechten Beines verfing sich rettungslos darin. Man stolperte, fiel mit hilflos rudernden Armen nach vorn und obgleich man es noch versuchte, es gelang ihm nicht mehr, sich abzufangen und so landete man mit dem Gesicht in der weichen, von Moos bedeckten Erde. Doch nahm man den Schmerz von aufgeschürfter Haut kaum wahr, auch dann nicht, als warmes Blut über Gesicht und Hals zu rinnen begann. Ebenso wenig die Tatsache, dass das Sprunggelenk des Knöchels, der immer noch zwischen Wurzel und Erdboden feststeckte, verletzt worden war. Stattdessen zerrte man unbarmherzig an seinem Bein - dann man hatte sie gehört, von weitem nur, ihr Donnern und Grölen, die vom Wind an seine Ohren getragen und doch hatte er sie gehört. Und wenn es doch nicht nur ein weit entferntes Echo war? Wenn sie doch näher waren, als ihm seine Sinne zu verstehen geben wollten?

Kind des WahnsinnsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt