𝟑𝟏. 𝐇𝐢𝐥𝐟𝐞

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Jacks Sicht

Fuck. Ich hatte keine verdammte Ahnung was ich gerade tat. Der Wind blies wie wild in meine Augen, während Regen von allen Seiten in unsere Gesichter peitschte. Ich war vollkommen verloren. Beinahe begann ich meine schnelle Entscheidung anzuzweifeln, doch als ich den Blick auf Emma warf, die jeden Tag litt und stumm kämpfte, machte ich den weiteren Schritt. Für meine kleine Schwester, die etwas Besseres verdiente, als nur noch eine einzige Sekunde zwischen diesen verfaulten vier Wänden sitzen zu müssen.

Ich hatte nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, wohin uns der Weg führen würde. Nur wusste ich, dass wir jetzt, mitten in der Nacht, mit regendurchnässten Klamotten an irgendein Fenster klopfen würden. Und was tun? Um Gnade betteln? In diesem Moment raste mein Gehirn so angestrengt wie ich es in manchem Tests nötig gehabt hätte. Merida oder Elsa? Sie beide hassten mich, aber ich wusste, dass sie ein Herz hatten. Wenn nicht für mich, dann für Emma.

Gott, war ich dumm? War ich verdammt nochmal dumm? Der Regen peitschte mir ins Gesicht und mit ihm die Erkenntnis. Ich war so hirnlos und verlassen von allen guten Geistern. Wo ist deine Ehre, Jack? Ich hatte Merida behandelt wie Scheiße und wollte jetzt bei ihr um Hilfe betteln? Und das schlimmste war, dass ich nicht den leisesten Hauch von Reue verspürte. Ganz abgesehen davon, würde mein Stolz mich umbringen wie die scharfe Klinge eines Messers.

Und Elsa. Meine Elsa. Sie hasste mich vermutlich. Ein Stich ins Herz. Sie wollte mich nicht sehen. Ein Stich ins Herz. Sie würde die Tür nur für Emma öffnen und mich am liebsten im Regen stehen lassen. Zwei tiefe Stiche ins Herz. Gott, wie ich mich selbst verabscheute. Dafür, dass ich es nicht wagte ihr die Wahrheit zu sagen. Doch sie würde mich nie mehr sehen wollen. Und der bloße Gedanke, ihr nicht wieder einen Blick schenken zu können, ohne ihre Augen auf mir zu spüren, wie sie sich in meine Haut brannten, brachte mich um den Verstand.

Beruhig dich. Beruhig dich, verdammt. Wo war der Jack, den ich immer spielte? Es fiel mir so einfach eine Rolle anzunehmen, die kühl war. Inhuman. Denn dann musste ich nicht fühlen. Dann war alles egal. Dann war ich ein anderer Mensch mit einem anderen Leben, das vielleicht ein wenig einfacher war. Dass ich ertragen konnte. Ein Leben, bei dem nicht jeder Morgen mit dem Wunsch begann den heißen Kaffee über meine Haut zu schütten und zu verbrennen. Mein Herzschlag verlangsamte sich.

Hans. Ich würde zu Hans gehen. Sofort dankte ich Gott für den Einfall. Er war ein Freund, der mich hoffentlich nicht verurteilen würde. Aber trotzdem musste die Maske sitzen. Ich hatte zu große Sorge sie fallen zu lassen. Nein, es war keine Sorge. Es war Furcht. Vor der Wahrheit, die so unausweichlich wäre.

***

Hans lebte gemeinsam mit zwei Brüdern bei seiner alleinerziehenden Mutter. Er sprach nie darüber und vermutlich wollte er gar nicht, dass irgendjemand von den ärmlichen Verhältnissen wusste, in denen die Familie hauste. Aber da wir seit Jahren befreundet waren, hatte ich einige Nächte, in denen es Zuhaus nicht auszuhalten war, bei ihm verbracht. Seine Mutter kannte mich und kochte die beste Marmelade, die es immer zum Frühstück gab. Manchmal aber war Hans ein echtes Arschloch, schrie seine Mutter an oder beleidigte sie. Ich hörte es sogar durch geschlossene Türen und dicke Wände. Obwohl wir nie darüber sprachen, wusste ich, dass er es nicht leicht hatte. Trotzdem konnte ein Teil von mir nicht verzeihen, wie er mit seiner Mutter sprach. Wenn ich Mama nur ein einziges Mal wieder sehen könnte. Was würde ich dafür geben.

Endlich kamen Emma und ich am schäbigen, alten Stadthaus an. Es lag hinter einer befahrenen Straße, zwischen geschlossenen Geschäften und heruntergekommenen Blocks. Volle Wäscheleinen hingen an den Balkonen, während leichter Lichtschein der Laternen und die Reflektoren der Autos über den Teer huschten. Die Leinentücher, die im Wind flatterten und vom Regen durchnässt wurden, erinnerten mich an Zuhause. An die Tage, an denen das Wort noch existierte. Als Mama noch lebte und unsere bunten Klamotten im Garten zum Trocknen aufhing.

Ich wollte nicht darüber nachdenken oder auch nur eine einzige, weitere Sekunde leiden. Also schloss ich die Augen, spürte wie die Tropfen auf meinen Lidern landeten und wartete auf das Geräusch aus der Sprechanlage.

„Hallo?" Es war Hans' kleiner Bruder Elias, der um diese Uhrzeit längst den Kopf unter der Decke verstecken sollte.

„Ich bin's. Jack.". sagte ich und lauschte dem Klang, der uns ins kühle Treppenhaus einließ.

Mein Herz beruhigte sich endgültig. Wir hatten es geschafft. Wir hatten irgendetwas geschafft. Müde zupfte ich an Emmas Kapuze. Sofort fiel mein Blick auf ihre kurzen Haare und all die Wut rauschte in meinen Körper wie ein unberechenbarer Sturm. Scheiße, wie ich unseren Vater hasste. Wie die Pest. Wie den Tod, der unsere Mutter genommen hatte.

„Es wird alles gut, Emma.", sagte ich, nahm ihre Hand und bahnte uns einen Weg in den fünften Stock.

Das alte Haus besaß keinen Aufzug. Nur eine uralte, enge Treppe, die jeder älteren Person vermutlich Todesängste einjagte, führte uns ins oberste Geschoss. Die Tür zur Wohnung stand offen, als würde uns bereits jemand erwarten. Ein heimeliger Geruch und der Duft von Gebäck stieg in meine Nase und setzte sich an die Stelle des Rauchs, der das schlecht belüftete Treppenhaus benebelte.

Müde stellte ich die durchnässtem Schuhe ab und schob meine Schwester in den winzigen Eingangsbereich, der sofort in eine kleine Essecke der Dachgeschosswohnung mündete. Als die Tür ins Schloss fiel, huschte Elias aus der Küche und starrte uns an.

„Wer ist das?", fragte er misstrauisch und beäugte meine Schwester irritiert.

„Emma. Meine Schwester.", entgegnete ich. „Solltest du nicht längst im Bett sein?"

„Nö." Elias grinste. „Mama ist nicht Zuhause und ich kann machen was ich will."

Augenrollend hing ich meine Jacke auf einen der Plastikbügel. „Ist Hans da?"

Der Schwarzhaarige nickte und verschwand im kleinen Korridor. Ich konnte nur hören wie er wild gegen eine Tür trommelte und den Namen seines Bruders schrie, als müsste niemand befürchten, dass ein alter Nachbar gleich Anzeige wegen Hausfriedensbruch erstatten würde.

Irgendwann kam Hans aus seinem Zimmer. Das braune Haar sah aus wie ein zerstörtes Vogelnest, aber seine hellen Augen wirkten lebendiger als je zuvor. Es war ein seltenerAnblick. Und ich wusste, dass es eine Fassade war, die er und ich nur Zuhause fallen ließen.

„Jack. Was zum-" Er verstummte, als seine Augen über Emmas Erscheinen huschten. Lange starrten wir uns an. Er sagte nichts und kam plötzlich auf uns zu. „Bleibt solang wie ihr wollt."

Ich dankte Gott. Ich danke Gott. Innerlich fiel ich zu Boden. Auf die Knie. Seine Worte waren ein Geschenk. Denn er verstand und würde nicht nachfragen. Das wusste ich genau.

„Deine Mutter?", hakte ich nach und beobachtete wie Hans einen Korb voll frischem Brot auf den kleinen Esstisch stellte und Emma ein aufforderndes Lächeln schenkte.

„Ist auf Arbeit. Sie kommt gegen fünf in der Früh. Du weißt, dass sie kein Problem haben wird."

„Danke.", sagte ich und meinte es ehrlich. Ich war so unfassbar dankbar. So unfassbar dankbar. Wie seit langem nicht mehr.

„Warte kurz. Ich komme gleich. Nimm dir alles, was in der Küche steht. Der Kühlschrank ist voll. Ausnahmsweise.", sagte er mit einem kleinen Schmunzeln und verschwand.

Erleichtert ließ ich mich auf einen der Stühle fallen. Meine Knochen fühlten sich an wie die eines gebrechlichen Mannes. Endlich konnte ich atmen. Endlich spürte ich wieder etwas. Endlich rauschte das Blut in normalem Tempo durch meinen Körper. Langsam richtete ich mich auf und beobachtete, wie Elias eine frische Brotscheibe mit Butter und Marmelade bestrich und meiner Schwester das Gebäck auf den Teller legte. Er lächelte. „Du siehst hungrig aus.", sagte er.

Emma lächelte zurück. Und zum ersten Mal seit langem spürte ich soetwas, was sich vielleicht Hoffnung nannte.

𝐃𝐢𝐞 𝐖𝐢𝐧𝐭𝐞𝐫𝐫𝐨𝐬𝐞 - 𝑱𝒆𝒍𝒔𝒂 & 𝑯𝒊𝒄𝒄𝒔𝒕𝒓𝒊𝒅  Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt