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Lange Schatten lagen auf dem gepflasterten Weg, Kühle strahlte von den grauen Betonwänden der eng aneinander gereihten Häuserreihen ab.

Still bewegte sich Yuna über die Hauptstraße Valtaruns, die sie jeden Morgen aufs Neue nahm. Sanft schaukelte der geflochtene Korb an ihrem Arm und die Brünette sog die frische Luft ein. Sie genoss die frühen Morgenstunden, in denen wenigstens ein paar Sonnenstrahlen durch die Ebenen drangen. Doch unter ihren halb geschlossenen Lidern wanderten ihre blauen Augen aufmerksam von einer Seite zur anderen. Dunkle Gestalten drückten sich in die engen Gassen und schienen sie unentwegt zu beobachten. Mit leicht gesenkten Kopf schritt sie auf das Tor zum inneren Ring des Berges zu.

Ihre hellbraunen Strähnen vielen wie ein Vorhang vor ihr blasses Gesicht und sie wagte, für einen Moment ihre Züge zu entspannen und tief auszuatmen. Im nächsten Moment jedoch erfasste eine leichte Brise ihre Haare und legte eine silberne Strähne frei.

Verdammt! Hatte sie diese doch tatsächlich bei ihrer Färbung übersehen.

Bedacht darauf, keine zu hektische Bewegung zu machen, strich sie sich durch ihre Haare. Die junge Frau presste ihre Lippen zusammen und verfluchte sich selber für diese Unachtsamkeit. Sie konnte nur hoffen, dass es keinem auffiel.

Mit flauem Magen reihte sie sich in die Schlange für die Kontrolle ein. Die imposanten Flügel aus Stahl ragten vor ihr in die Höhe und waren tief in das harte Gestein des Berges gelassen. Sie blickte hoch an die Decke und stellte sich vor, dass die Türen der oberen Ebenen überreich mit Ornamenten und Diamanten geschmückt waren. Sie würde es wohl nie mit eigenen Augen sehen.

„Nächster!" Die Stimme des Aufsehers donnerte über die Köpfe der anstehenden Menschen hinweg und ließ sie zusammenzucken.

Langsam bewegte sie die Schlange ein paar Zentimeter vorwärts, um dann wieder stillschweigend zu verharren.

Augenblicklich ertönte das verzweifelte Schreien eines jungen Mannes: „Ich schwöre, ich bin ein Arbeiter!"

Doch ein stämmiger Aufseher hatte in bereits gepackt und führte in fort. Seine Fäuste trommelten auf die gepanzerte Brust des Wächters. Mit einer Bewegung löste er Gesteinsbrocken, schleuderte es dem Aufseher entgegen und brüllte weiter.

„Ich bin einer von euch! Helft mir doch!"

Schnell senkte Yuna ihren Blick zum Boden. Dieser Mann war verloren. Es war klar, dass die meisten Bewohner Valtaruns Fähigkeiten besaßen, doch diese gegen die Aufseher zu gebrauchen war ein schweres Vergehen.

Ein dumpfer Schlag war zu vernehmen und der Mann verstummte.

Krampfhaft fixierte die Brünette einen Stein am Boden. Sie wagte es nicht, den Kopf nur einmal zu heben. Es war verboten, zu glotzen. Sonst würde auch ihr ein Urteil sicher.

Unbeeindruckt machte der Wächter am Schalter weiter und als wäre nie was geschehen, bewegte sich die Schlange voran.

„Nächster!" Yuna's Blick schoss in die Richtung der Stimme. Sie war dran. Schnell wischte sie ihre schweißnassen Hände an ihrer einfachen Baumwoll-Kleidung ab und trat an das Pult.

„Name?" Gelangweilt zog er das Wort in die Länge und blickte nicht mal von seinem Val'Tab auf.

„Yuna Petalia", antwortete sie mit ihrer melodischen Stimme und biss sich sofort auf die Zunge. Verdammt, mal wieder hatte sie die Kontrolle über ihre Stimme fast verloren.

Doch der Aufseher schenkte ihr noch immer keine Aufmerksamkeit. Erleichtert entspannte sie ihr Kiefer. Gelangweilt tippte er einige Male auf das flache Gerät in seinen Händen.

Dann deutete der Mann mit dem Kinn auf die silberne Fläche vor ihr, die in der Form einer Hand blau aufleuchtete.

Langsam legte sie ihre Handfläche auf die kalte Platte. Sofort erfasste sie ein Kribbeln, das sich wie sprudelndes Wasser durch ihre Nervenbahnen in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Gerade dann, als es anfing zu brennen, ließ es nach. Die Prozedur war vorbei.

Brummend deutete der Mann am Schalter auf die kleine Tür neben dem riesigen Tor.

Yuna packte den Griff ihres Korbes fester.

„Mein Herr, ich benötige noch Rationskarten." Ihre Stimme zitterte ehrfürchtig und entlockte dem Aufseher ein abartiges Grinsen.

„Natürlich, Täubchen." In unendlich zähen Bewegungen holte er zwei schimmernde Karten hervor und schob sie über den ebenmäßigen Tisch.

Als die junge Frau nach ihnen griff, packte er ihr dünnes Handgelenk und drückte fest zu. Erschrocken blickte sie in seine Augen, doch sie sah nur noch schwarze Tümpel, die das Licht verschlangen und sie hatte das Gefühl, Wasser fülle ihre Ohren.

Doch dann ließ er sie los und blitzartig zog sie ihren Arm zu sich.

Schneller als er die nächste Person aufrufen konnte, war sie durch die Tür geschlüpft.

Die stickige Luft und die brausenden Geräusche des Arbeiterplatzes schlugen ihr entgegen.
Die Werke, in denen gearbeitet wurden, waren bloße Höhlen in der dicken Steinwand. In der Mitte war der Marktstand, der schwach von alten Leuchten erhellt wurde.

Laut atmete sie aus, bevor sie sich auf den Weg zum Markt machte.

Die eisigen Karten würden ihr so viel Lebensmittel ermöglichen, dass sie heute Abend und Morgen zum Frühstück etwas Gutes kochen konnte.

Eine warme Suppe wäre heute genau das Richtige für Großmama.

Plötzlich verspürte sie einen Aufprall, der sie zurücktaumeln ließ.

Ihr Blick suchte nach der Ursache und fand zwei funkelnde Augen. Das leuchtende Orange um deren Pupillen verlief zu einem goldenen Ton, bis es an den Rändern der Iriden in hellem Gelb strahlte.

„Geht es Ihnen gut, Fräulein?"

Perplex blinzelte sie, bis ihr bewusst wurde, dass sie den jungen Mann anstarrte, gegen den sie gelaufen war.

Sofort spürte sie die brennenden Blicke der Aufseher auf sich und stammelte ein paar unverständliche Worte.

Verdammt, was war nur los mit ihr? Ihr war klar, dass sie nun die Vorschriften befolgen musste, doch ihr Verstand hatte sich in einen Strudel verwandelt, der alle nützlichen Erinnerungen verschluckte.

„E-es tut mir aufrichtig leid." Endlich schaffte sie es, einen gescheiten Satz zu formulieren.

„Kein Problem."

Ihr Kiefer zuckte. Kein Problem?! Doch sie ließ sich nicht beirren und sprach die vorgeschriebene Frage aus.

„Würden Sie eine Einladung zum Abendbrot als Entschuldigung annehmen?"

Ein breites Lächeln lag auf seinen Lippen. „Gewiss, Fräulein ...?"

„Petalia."

„Also gut, Fräulein Petalia. Wir sehen uns!" Er zwinkert ihr zu und schlendert an ihr vorüber.

Unfähig, sich zu regen, blieb sie verwirrt zurück.

Mein Beitrag zum Ideenzauber 2024Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt