1. I Stay Here

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Da stand ich nun - wieder ein Hotelzimmer, wieder aus Koffern leben, wieder eine andere Stadt, ein anderes Land.
Flughafen, Geräusche, Menschen... all dies ging wie ein Rausch an mir vorbei. Einchecken, sich orientieren.
Neben mir Er. Er, wie er hektisch telefoniert, Absprachen trifft, Termine bespricht. Ich, die nebenbei herläuft - wieder einmal.
Zusammen, aber doch allein.
So stehe ich nun da, gerade in London angekommen. Das Hotelzimmer war eigentlich eine Suite. Andere würden mich sicherlich darum beneiden. Die Aussicht auf die Westminster Abbey unbeschreiblich. BigBen läutete. 14 Uhr. Wir sind gerade einmal ein Stunde hier.

Mach dir einen schönen Nachmittag, Honey. Bis später. Love you.

Ein Kuss auf die Wange, die Tür, die ins Schloss fiel. Und dann - Stille... Und das Gespür seiner zarten Lippen auf meiner Haut...
Ich atmete tief durch, versuchte, die aufkommenden Gefühle der Traurigkeit, aber auch der Wut zu unterdrücken. Es fiel mir immer schwerer mit der Zeit.
Der Geruch des Zimmers war fremd und clean. Nicht zu Hause.
Ich beschloss, etwas raus zu gehen, um mich abzulenken.
Spazierte über die Westminster Bridge, blickte auf die Themse.
Doch selbst in einer so großen Stadt, in der es vor Leben nur so wimmelt, fühlte ich mich allein.

Es gab eine Zeit, da hat es mir nichts ausgemacht. Wir waren zusammen, aber dennoch frei. Ich war tatsächlich manchmal froh, einfach nur für mich alleine zu sein. Niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Freunde treffen, feiern gehen. Mein Studium. Ein ganz normales Leben führen.
Wir hatten dann wieder sehr intensive gemeinsame Zeiten, nur für uns. Es war ihm wichtig. Ich hatte stets das Gefühl, dass ich bei ihm an erster Stelle stehe.
Damals hatten wir viele Gespräche geführt, als er beschlossen hat, wieder in die Öffentlichkeit zu wollen. Musik zu machen.
Er und die Musik waren unzertrennlich. Ohne Musik war er nur ein halber Mensch.
Während seiner verzweifelten Suche zu sich selbst hatte er es sich verboten, Musik zu machen. Hatte sich verboten, glücklich zu sein, hatte sich ein UNS verboten. Es ging ihm nicht gut. Körperlich völlig ausgelaugt, ausgemergelt. Leere Augen, nur Dunkelheit, die ihn, wenn man grau hinsah, umgab.
Alles war notwendig, um ihm einen neuen Weg zu ebnen. Ein Weg, den er selbst bestimmt. Keine Familie, keine Plattenfirmen, keine Fangemeinde, kein Druck. Nur Er.
Er fing ganz klein wieder an. Sog alles auf, wie ein Schwamm. Die Dunkelheit wich, er war glücklich, wir waren es.
Eine Hochzeit, die langsame Kontaktaufnahme zu seiner Familie, Aussöhnung mit der Vergangenheit.
Doch dann wurde das Interesse größer und größer. Auftritte, Interviews, TV-Shows. Songs schreiben. Er, der plötzlich nicht mehr ruhte. Termine, die plötzlich unser Leben bestimmten.
Nachts war er oft stundenlang wach, weil Texte in seinem Kopf umherspukten, Melodien gehört werden wollten.
Er tauchte in diese Welt ein, eine eigene Welt, die für Außenstehende schwer begreiflich ist. Es schien, als würde diese Welt ihn mit Haut und Haaren verschlingen und er ließ es zu. Obwohl er es eigentlich hätte besser wissen müssen.

Sicherlich war die Anerkennung für ihn als Musiker sehr wichtig. Losgelöst von dem anhaltendem Image der einstigen Hippiefamilie. Ich war stolz auf ihn, dass er sich neu erfunden hat, bin es immer noch. Endlich bekam er den Respekt, den er verdiente.
Dennoch machte mir die rasende Veränderung Angst.
Der von ihm so verhassten Kommerz, der Fankult, die Hysterie. Ich sah dies alles direkt vor mir. Vorwiegend weibliche Fans, die ihm hinterher fuhren, bei jedem Konzert in der ersten Reihe standen, kreischen und eindeutige Botschaften sendeten. Fotos und Videos, die sich dank Insta & Co rasant verbreiteten, entsprechende Kommentare. Ich sah es. Er nicht - oder wollte es vielleicht auch nicht. Denn ohne das alles konnte seine Musik nicht funktionieren. Obwohl er immer sagte, dass die Hysterie das Schlimmste sei und er dies nicht noch einmal wieder erleben wollte, erleben konnte. Ich verstand einfach nicht, wie er es trotzdem zuließ und es teilweise auch noch provozierte. Es war für mich in diesen Momenten schwer nachzuvollziehen, wie er sich in die Menge werfen konnte, die fremden Hände, die ihn überall anfassen, ja schon regelrecht begrabbelten. Ihn, der doch nur mir gehörte.
Auch hier gab es zwischen uns viele Gespräche, es wurde lauter zwischen uns, es gab unschöne Worte.

Er steht unter Druck, ja, das erkenne ich. Es hat Einfluss auf auf sein ganzes Wesen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Dinge kaum noch zu kontrollieren sind. Dann höre ich Interviews, in denen er zum hundertsten Mal dasselbe erzählt. Die Worte wiederholen sich, Gestik, Mimik, alles gleich. Einstudiert, auswendig gelernt. Nicht er selbst. Die Augen, die nicht mit lachen. Warum tut er sich das an? Erkennt er es nicht? Oder, was noch schlimmer ist: hat er keine andere Wahl?

In mir wuchs eine tiefe Sehnsucht nach dem Vorher. Wir beide, ein gemeinsames Leben, durch viele Tiefen, endlich angekommen. Ein normales Leben, weit weg von dem ganzen medialen Rummel. Eine Familie gründen, sesshaft werden.
Aber dann kam die Musik zurück.
Es schien, als würden wir mittlerweile in einem stetigen Konkurrenzkampf miteinander stehen: die Musik und ich.

Holding our course (?) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt