Schlaflos

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Ich bin noch wach, als Eve mein Augenlied aufzieht. „Atmest du noch?“

Ich seufze. „Eve, es ist alles in Ordnung. Schlaf weiter.“ Sie hat immer Angst, dass ich plötzlich am Virus sterbe. Auch in dieser Nacht ist sie wieder zu mir unter die Decke geschlüpft. Ich hoffe, sie macht nicht wieder ins Bett.

Brummelnd legt Eve sich hin und als es kurz darauf still ist, weiß ich, dass sie im Halbschlaf gesprochen hat.
Unruhig wälze ich mich im Bett und neide dem Kind neben mir seinen Schlaf.

Es ist eine laute Nacht. Aus dem Wald hallt Gebell. Ich vermute ein Rudel verwilderter Hunde auf der Jagd.
Gerne wüsste ich, wie spät es ist. Doch aus jeder Uhr hat Daniel die Batterie konfisziert. Energie ist zu kostbar, um damit die Zeit zu messen. Sogar die Rauchwarnmelder hat er abgehangen und die Batterien entnommen.

Vor dem Fenster höre ich ein bedrohliches Fauchen, dann lautes Rascheln und Kampfgeräusche. Schließlich Fresslaute. Ich habe keine Ahnung, von welchem Tier diese Geräusche stammen.
Die Wildnis, in der ich nun lebe, ist mir unbekannt. Besonders nachts fühle ich mich wie auf einem fremden Planeten und komme nur zur Ruhe, weil wir im ersten Stock schlafen, beschützt von dicken Mauern und verschlossenen Türen. Doch ich weiß, dass die Stadt, in der ich aufwuchs, jetzt der weitaus gefährlichere Ort ist.

Nervös kaue ich auf einer Haarlocke und schaue immer wieder zum Schatten der Schneiderpuppe, die der Mondschein im Erker anleuchtet.

Zwei Tage und Nächte hat Tinga an meinem Kostüm genäht, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war. Morgen ist mein großer Auftritt – und ich würde am liebsten kneifen.

Es ist eine Ewigkeit her, dass ich in der Stadt gewesen bin. Mein Zustand war eine nützliche Ausrede, um mir den Anblick zu ersparen.
Die Welt, in der ich aufwuchs, existiert nicht mehr – nur ihr Echo, das von verwahrlosten Gebäuden hallt und alte Wunden aufreißen wird.

Ich rolle mich auf die andere Seite. Trotzdem schweift mein Blick vollkommen wach durch mein Zimmer. Es war ein Gästezimmer, bevor die Rooks sich in der Villa einnisteten. Es ist eines der größeren Schlafzimmer und Daniel fand, es stünde mir zu, da ich mir den Platz bald mit einem Baby teilen müsse.

Mein eigenes Kinderzimmer war kleiner. Ich wuchs bei meiner Großmutter auf, aber das machte nichts: Sie war eine Glucke und bot Lili und eine behütete Kindheit.

Ich versuche, mich an unser Haus zu erinnern und daran, wie meine Großmutter in der Küche stand und kochte. Doch meine Erinnerungen sind verschwommen, wie in einem sehr alten Film. Es ist keine zwei Jahre her, dass ich ein Schulmädchen war und ein Zuhause hatte. Doch meine Erinnerungen kann ich nur schwer festhalten. Sie rinnen mir durch die Finger, als seien sie aus Sand. Nur die dicksten Körnchen bleiben hängen.

Plötzlich mache ich mir Sorgen, dass meine alten Freunde mich nicht wiedererkennen werden. Und wie werden sie reagieren, wenn sie meinen dicken Bauch bemerken? Falls William – der sich jetzt Billy Boy nennt und einen Tribe anführt – kein Interesse mehr an mir hat, wird das peinlich für mich werden. Auf einmal befürchte ich, bei meinem Deal mit Nick zu hoch gepokert zu haben. Und was, wenn ich statt meiner Freunde nur alten Feinden begegnen werde?

Immer schneller dreht sich das Gedankenkarussell in meinem Kopf. Fluchend rapple mich auf und greife meinen Bademantel vom Bettpfosten. Von Eve kommt bloß zufriedenes Traumgemurmel.

Auf dem Flur scheint das silbrige Mondlicht durch die Fenster und fällt wie eine Lichtpfütze auf das Parkett. Zur Orientierung ist es vollkommen ausreichend; in den vergangenen Monaten musste ich mich daran gewöhnen, mich auch im Dunkeln in der Villa zurechtzufinden.

Ohne zu Klopfen öffne ich die Tür, die meinem Zimmer gegenüber liegt, und schlüpfe hinein. Hier ist es stockfinster. Das Zimmer liegt auf der Rückseite des Hauses und vor den Fenstern ranken Schlingpflanzen. Und dahinter wuchert direkt die unbekannte, mysteriöse Natur mit ihren eigenen Gesetzen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 09 ⏰

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