Kapitel 11 - Scharfe Klauen

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Wolken brauten sich an der Küste zusammen. Der nahende Herbst wurde mit entferntem Donnergrollen und Blitzen angekündigt, die am Firmament zuckten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es regnen würde.

»Ich bin so elendig müde«, jammerte Gazis, der auf dem Kutschbock fast einschlief. Mittlerweile hatten sie Athen hinter sich gelassen, um den Strand abzufahren. Während des gesamten Wegs waren sie keinen verdächtigen Okkultisten begegnet, die versuchten ein Monster im Sand abzulegen. »Die gesamte Geschichte ergibt keinen Sinn«, fuhr der Wundarzt fort. »Eine Frau verwandelt sich während einer Séance in ein Ding. Man konnte sie nicht umbringen, also wirft man sie stattdessen ins Meer? Dann frisst sie einen Fischer. Also versucht man sie wieder zu fangen und sie am Strand auszusetzen, damit sie das Problem eines anderen wird? Genauso gut hätten sie das Weib einfach im Meer lassen können, oder nicht?«

Ambrose hob die Schultern. Benebelt wankte sein Blick die Steinstraße hinab, an die sich das Meer anschloss. Komplexe Überlegungen verfingen sich in seinem Schädel und er konnte seine Konzentration gerade genug bündeln, um zu antworten: »Ich vermute, dass sie aus dem Meer gefischt wurde, weil man mit anderen Mitteln versuchen wollte, sie zu töten. Oder sie wurde jetzt betäubt.«

Darauf folgte keine Antwort.

Nach einer Weile mussten sie anhalten, da sich die Straße zu weit vom Meer entfernte. Ambrose folgte zu Fuß einem schmalen Pfad, der einen unsicheren Weg zum Strand ebnete.

Bislang war jeder Küstenabschnitt von Häusern überblickt worden. Es gab keinen unbewachten Winkel, an dem man heimlich eine Leiche ablegen konnte — außer man wagte sich, dicht an die Klippen heranzutreten. Er musste darauf vertrauen, dass die Frau sie nicht angelogen hatte.

Unter allen anderen Umständen hätte er bereits vor Stunden die Suche abgebrochen, nun aber war sein Interesse geweckt. Trotzdem er den Okkultismus hasste, bestimmte dieser schon immer seinen Herzschlag.

Gazis fuhr mit den Fingernspitzen durch das taunasse Gras. »Vlachos. Die Sonne ist schon aufgegangen. Die ersten Leute arbeiten wieder. Man hat dieses Monster bestimmt schon gefunden, wenn es an einem offensichtlichen Ort liegen sollte.«

»Vielleicht hätten wir Richtung Süden den Strand absuchen sollen«, grummelte Ambrose bestätigend.

»Bereust du es jetzt, nicht auf mich gehört zu haben, als ich gesagt habe, dass wir Hilfe beim Suchen anfordern sollen?«

»Nein.«

»Nein?«

»Ich will meine Ruhe.« Ambrose kippte seinen Kopf nach hinten, als eine Woge Schwindel über ihn herfiel. Die Ägäis verwandelte sich in einen Spiegel, der das morgendliche Sonnenlicht reflektierte. Farben und Licht tänzelten vor seinen Augen, während Ambrose sich konzentrierte, auf den Beinen zu bleiben.

Neben ihnen ragte ein Hügel auf, auf dessen Spitze ein Anwesen thronte. Er fixierte die geschwungene Architektur — scheinbar war es eines der wenigen Bauwerke, die den Befreiungskrieg unbeschadet überstanden hatten.

Dass Ambrose auf den Arm geschlagen wurde realisierte er kaum.

»Hey«, schimpfte Gazis und zeigte dann nach vorn. »Bewegst du dich mal?«

Er zweifelte einen Augenblick, ob er tatsächlich stehengeblieben war, doch stellte fest, dass der Wundarzt auf etwas anderes hinauswollte. Als er den Blick nach vorn richtete erkannte Ambrose ein auffälliges Knäuel aus zwei Personen. Eine davon lag zusammengekauert auf dem Boden; eine Frau thronte über ihr.

»Das habe ich gar nicht gesehen«, antwortete Ambrose, während er den Berg herunterlief, um die glitzernde Sandfläche zu betreten.

»Ja. Hab ich gemerkt.« Gazis überholte ihn mit großen Schritten. »Nicht anfassen!«, brüllte er zu der Frau.

Das Urteil der GefürchtetenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt