Ich erinnere mich noch an das letzte Mal, dass meine Mutter mich in den Arm nahm.
Damals war ich gerade sechs Jahre alt, es ist schon so unglaublich lange her. Meine Eltern waren wieder in einen ihrer endlosen Streite verfallen und ich saß daneben, die Hände auf die Ohren gepresst und weinend. Es ging um Dinge, die ich damals nicht verstand und heute nicht mehr weiß.
Mein Vater hob die Hand und ich wusste, was gleich passieren würde. Im Grunde wussten wir es alle und trotzdem versuchte er es jedes Mal aufs Neue. Er wollte zuschlagen, konnte es aber nicht, weil eine unsichtbare Kraft ihn daran hinderte. Die Kraft meiner Mutter, die sie mental aufbrachte. Sie hatte diese Gabe von meiner Großmutter geerbt, und diese wiederum von ihrem Vater. So war sie über viele Generationen weitergegeben worden. Und auch ich besaß das Talent, andere Menschen zu kontrollieren, ihnen zu sagen, was sie zu tun und zu lassen hatten. Nur bei meinen Eltern funktionierte meine Gabe aus irgendeinem Grund nicht.
Ohne ein Wort verließ meine Mutter die Küche, ich hörte eine Tür schlagen und wollte hinterher, sie trösten. Mein Vater hielt mich zurück, hielt mich in seinen starken Armen und ich schmiegte mich an ihn. Denn auch, wenn er einen Moment zuvor noch laut geworden war, war er in dem Moment der Einzige, der mir Halt gab, es zumindest versuchte.
Schließlich ließ er mich los und blickte auf. Meine Mutter stand in der Tür, einen der großen Reisekoffer in der Hand und einen Rucksack auf dem Rücken. Was hatte das zu bedeuten, fuhren wir spontan in den Urlaub?
„Es tut mir so leid", schluchzte meine Mutter unter Tränen. Sie sprach mit mir, meinen Vater beachtete sie nicht. Nun liefen meine Augen ebenfalls wieder über, was war los? Was tat ihr denn leid? Ich wand mich aus dem Griff meines Vaters, der es seufzend geschehen ließ. Ich ging auf sie zu, um ihr zu sagen, dass alles gut werden würde, dass es gar nicht so schlimm sei.
Sie hockte sich hin, um mit mir auf einer Augenhöhe zu sein, dann umarmte sie mich. So fest und lange wie nie zuvor. Schließlich stand sie wieder auf, strich sich die Jacke glatt.
„Mami geht jetzt für eine Weile weg, okay? Und wenn du willst, kannst du ..."
„Das kannst du nicht machen", unterbrach mein Vater sie. „Wenn du keinen anderen Weg findest, geh. Aber das ist auch mein Kind, mit dem du sprichst. Du kannst nicht einfach ein sechsjähriges Kind manipulieren. Wenn du gehst, geh allein, aber mein Engelchen hat ein normales Leben verdient. Auch wenn du selbst das scheinbar nicht auf die Reihe bekommst." Er war erstaunlich ruhig geblieben. Vielleicht weil er wusste, dass kein Schreien der Welt jetzt noch etwas ändern konnte.
Er zog mich zu sich und legte schützend die Arme um mich. Ich verstand es nicht, alles war so verwirrend. Ich wollte mit meiner Mutter mitkommen, aber auch bei meinem Vater bleiben. Sollte ich mich jetzt entscheiden? Nein, wie es aussah, hatte das schon mein Vater getan. Offenbar verstand meine Mutter das im Gegensatz zu mir, denn eigentlich wäre es für sie doch ein Leichtes gewesen, sich meinem Vater zu widersetzen. Stattdessen drehte sie sich auf dem Absatz um und ich hörte, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.Das war das letzte Mal, dass meine Mutter mich in den Arm nahm.
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Ich, du, wir, ich
Teen FictionWenn man zu Hause rausgeworfen wird, ist das Leben nicht gerade einfach. Es erscheint einem unfair. Wenn man dann die Liebe seines Lebens kennenlernt, lässt das die Sorgen vorübergehend verblassen. Doch nichts währt ewig und nichts ist so perfekt, w...