VI. Übernachtung

4 1 0
                                    

Ich erinnere mich noch an das erste Mal, dass ich bei dir übernachtete.

Wir hatten uns fast jeden zweiten Tag getroffen und ab und zu hatte ich dich nach Hause begleitet. Ich wusste also, wo du wohnst. Eines Tages stand ich dann vor deiner Tür, unangekündigt. Ich war ausgelaugt, wollte endlich eine Nacht durchschlafen, und du warst zu der Zeit die Person, der ich am meisten vertraute, die mir als erstes eingefallen war.
Doch als ich klingelte, öffnetest nicht du die Tür, sondern eine Frau, offenbar deine Mutter. Sie hatte nicht mit Besuch gerechnet und war dementsprechend verwirrt, doch als ich mich vorsichtig vorstellte, hellte sich ihr Gesicht auf. Du hattest deiner Familie von mir erzählt, ich hatte fast Angst, mein Herz würde explodieren vor Euphorie. Deine Mutter sagte, du seist gerade mit Apollo unterwegs. Einen winzigen Augenblick lang war ich eifersüchtig, dann fiel mir ein, dass das der Name eures Hundes war. Ich wollte schon umkehren, doch deine Mutter bat mich herein und natürlich konnte ich nicht ablehnen. Sie brachte mich ins Wohnzimmer, wo ich mich aufs Sofa setzen durfte, und versorgte mich sogar mit einem Teller frisch gebackener Kekse. Es war mir zwar etwas unangenehm, doch vor allem fühlte es sich wahnsinnig gut an, so umsorgt zu werden. Ich bedankte mich und sie winkte nur ab, das seien doch nur gute Manieren und eine Selbstverständlichkeit. Ich glaube, das dachte sie wirklich. So etwas hatte ich vorher nicht erlebt.
Dann kamst du heim, ich hörte das Bellen, bevor ich dich sah. Obwohl es sich seltsam anfühlte, dich in deinem eigenen Zuhause zu begrüßen, tat ich es. Du warst sichtlich überrascht, ich hatte mich schließlich in keiner Weise angekündigt. Ich glaube, vielleicht hatte ich es sogar absichtlich nicht getan, um deine ehrliche Reaktion erleben zu können. Es war so schön zu sehen, dass unsere Beziehung nicht auf Einseitigkeit beruhte. Dass ich dir ebenfalls so viel zu bedeuten schien.
Ich zögerte die Zeit absichtlich heraus, blieb zum Abendessen. Du hattest mich auch dem Rest der Familie schon vorgestellt und es erleichterte mich, dass sie mich zu mögen schienen. Sie waren alle so herzlich, so offen wie du. Als ich schließlich vorsichtig fragte, ob ich bei dir übernachten könne, stimmtest du zu und deine Mutter machte sich sofort auf die Suche nach Bettwäsche für mich. Du wolltest mir schon dein Bett anbieten und selbst daneben schlafen, doch das konnte ich nicht zulassen. Eine Matratze war für mich Luxus genug, also beharrte ich darauf, dir nicht das Bett wegzunehmen.
Abends lagen wir beide noch wach. Ich bedankte mich ein weiteres Mal. Für alles. Du gingst darüber hinweg, als hättest du es gar nicht gehört. Und auch dafür bedankte ich mich, allerdings nur im Stillen. Ich glaube, du wolltest mich fragen, ob es einen Grund gäbe für mein Auftauchen, doch warst du zu anständig, wolltest meine persönlichen Grenzen nicht übertreten. Hättest du es doch getan, hätte ich dir nicht die Wahrheit sagen können, dafür war ich noch nicht bereit.
Ich konzentrierte mich darauf, wie gut es mir gerade, im Moment, ging. Ich war satt und hatte einen sicheren Ort zum Schlafen. Ich lag neben dir. Ich war zufrieden. Und unglaublich müde. Deshalb sank ich schnell in einen tiefen Schlaf.

Das war das erste Mal, dass ich bei dir übernachtete.

Ich, du, wir, ichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt