Kapitel 5: Der Abgrund in uns

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Y/N wusste, dass sie keine Wahl hatte. Die Worte, die Mahito ihr hinterlassen hatte, hallten in ihrem Geist wider, als sie durch die dunklen Straßen Tokyos wanderte. Jeder Schatten schien nun eine Bedeutung zu haben, jeder Laut war wie ein Vorzeichen, das sie tiefer in das Geheimnis führte, das ihr Schicksal mit dem von Mahito verknüpfte.

Die Tage vergingen, und Y/N begann, das Rätsel um ihre eigene Identität und die Rolle, die Mahito darin spielte, zu ergründen. Sie verbrachte Stunden in der Bibliothek der Jujutsu-Schule, durchstöberte alte Aufzeichnungen und Berichte über Flüche, Menschen und die Verbindung zwischen ihnen. Doch je mehr sie las, desto deutlicher wurde ihr, dass die Antworten, die sie suchte, nicht in den Büchern standen. Sie mussten aus ihr selbst kommen - aus dem Teil von ihr, den sie so lange verdrängt hatte.

Eines Abends, als die Sterne über Tokyo funkelten und die Stadt in ein sanftes, fast ätherisches Licht getaucht war, entschloss sich Y/N, zu dem Ort zurückzukehren, an dem alles begonnen hatte. Die verlassene Fabrik lag still und verlassen da, ein düsteres Monument ihrer vorherigen Begegnungen mit Mahito. Doch diesmal war es anders. Sie spürte seine Präsenz schon, bevor sie ihn sah, und ein Teil von ihr wusste, dass dies ein entscheidender Moment war.

„Du hast mich erwartet", sagte sie, als sie den Hauptraum betrat und Mahito dort stand, seine Gestalt kaum mehr als ein Schatten in der Dunkelheit.

Er lächelte, aber es war ein Lächeln ohne Freude. „Du bist schneller, als ich dachte."

Y/N trat näher, ihre Augen ließen ihn keinen Moment aus den Augen. „Du hast gesagt, ich würde die Wahrheit finden. Aber die Wahrheit, Mahito, liegt nicht in mir. Sie liegt in uns beiden."

Mahito hob eine Augenbraue, als wäre er überrascht von ihrer Entschlossenheit. „Und was denkst du, ist diese Wahrheit?"

Y/N atmete tief durch und ließ ihre Gedanken auf den letzten Wochen ruhen. „Wir sind beide gefangen - du in deiner Existenz als Fluch, ich in meiner Suche nach einem Sinn. Wir sind Spiegelbilder, aber anstatt uns zu bekämpfen, könnten wir verstehen, warum wir so sind."

Mahitos Lächeln verschwand, und für einen Augenblick war da nur ein kaltes, unnachgiebiges Gesicht. „Du glaubst wirklich, es gibt etwas in mir, das es wert ist, verstanden zu werden?"

„Ja", sagte Y/N fest. „Ich glaube, du bist mehr als nur das, was du vorgibst zu sein. Und ich glaube, dass ich es auch bin."

Mahito sah sie lange an, seine Augen suchten in ihren nach einer Antwort, die er nicht in Worte fassen konnte. „Vielleicht hast du recht", sagte er schließlich leise. „Vielleicht gibt es mehr, als wir beide zugeben wollen."

Y/N spürte, wie etwas in ihr nachgab - ein Widerstand, den sie nicht einmal bemerkt hatte. „Ich habe Angst vor dem, was ich finden könnte", gestand sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Aber ich weiß, dass ich es herausfinden muss."

Mahito trat näher, bis nur noch ein schmaler Raum zwischen ihnen lag. „Angst ist nicht das, was uns zurückhält, Y/N. Es ist die Weigerung, zu akzeptieren, was wir wirklich sind. Wenn du die Wahrheit willst, musst du bereit sein, alles zu verlieren - auch die Vorstellung von dir selbst."

Y/N schluckte hart. Sie wusste, dass er recht hatte. Der Weg, den sie eingeschlagen hatte, war einer ohne Gewissheiten, ohne Sicherheiten. Doch sie hatte schon zu viel verloren, um jetzt umzukehren. „Ich werde es riskieren."

Mahito betrachtete sie mit einem Ausdruck, den sie nicht deuten konnte - eine Mischung aus Bewunderung und Traurigkeit. „Dann bist du mutiger, als ich dachte", murmelte er, bevor er eine Hand nach ihr ausstreckte. „Lass uns diesen Abgrund gemeinsam betreten."

Zögernd nahm Y/N seine Hand. Sie war warm, unerwartet menschlich, und in diesem Moment verschwanden alle Unterschiede zwischen ihnen. Sie waren keine Jujutsuschülerin und kein Fluch mehr - sie waren einfach nur zwei Seelen, die sich auf einer Reise der Selbsterkenntnis befanden.

Zusammen traten sie tiefer in die Dunkelheit der verlassenen Fabrik hinein, geführt von einem unausgesprochenen Verständnis und einer wachsenden Verbindung, die jenseits von Gut und Böse lag. Es war ein gefährlicher Pfad, den sie eingeschlagen hatten, aber sie wussten beide, dass es keinen anderen Weg gab.

In dieser stillen, dunklen Welt, wo Licht und Schatten zu einem wurden, begann eine neue Reise - eine, die sie entweder zur Wahrheit führen würde oder in den endgültigen Abgrund stürzen konnte. Aber für Y/N war es der einzige Weg, der noch übrig blieb. Und sie war bereit, ihm bis zum Ende zu folgen, egal, wohin er sie führen würde.

Liebe Zwischen Fluch & Mensch ?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt