Heute ist sein sechzehnter Geburtstag und das einzige woran ich denken kann ist, dass uns die Zeit abläuft. Mittlerweile habe ich richtig Angst, ihn gehen zu lassen. Ich weiß nicht warum, aber ich kann einfach nicht. Ich weiß schon jetzt, dass ich ihn verlieren werde; dass er mich vergessen wird. Ihm ist auch schon aufgefallen, dass ich mich komisch verhalte, »distanziert« sagt er. Dabei ist das gar nicht meine Absicht. Eigentlich will ich ihn in meinen Armen halten und nie wieder loslassen, doch stattdessen tue ich genau das Gegenteil, vermeide Umarmungen, schaue ihm nicht mehr in die Augen. Zu groß ist die Angst vor dem Abschiedsschmerz.
Die Tür klingelt und ein großer Mann mit braunen Haaren öffnet mir grinsend die Tür.
„Oh, hallo Greg!", rufe ich erfreut und falle ihm in die Arme. Früher waren er, sein Bruder und ich ein Dreiergespann, bis er dann mit seiner ersten Freundin zusammen gekommen ist.
„Hi Al! Schön dich zu sehen, das letzte Mal ist schon eine Ewigkeit her..."
„Ja. Ganze drei Jahre! Wie geht's euch?"
„Eine ganz schön lange Zeit... und uns geht's sehr gut, danke der Nachfrage. Niall ist hinten im Garten", zwinkert er mir zu.
„Danke", lächle ich und betrete das mir so vertraute Haus. Nichts hat sich verändert, wieso sollte es auch. Wird es sich in Zukunft verändern? Bestimmt, alles wird sich ändern.
Ich sehe Maura aus dem Augenwinkel, die mir aus der Küche zuwinkt und winke verlegen zurück. Ich gehe weiter, durch das schöne, helle Wohnzimmer und in Richtung Gartentür. Ich kann ihn schon sehen, er steht mit dem Rücken zum Haus und fuchtelt wild mit seinen Händen in der Luft herum. Vor ihm sein kleiner Cousin Levin mit einem Fußball. Ich grinse in mich hinein, so ein Kasper. Schnell streiche ich mir noch eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann öffne ich die Tür und renne leise auf ihn zu. Mit einem lauten Gekicher umarme ich ihn von hinten und schreie: „Alles Gute zum Geburtstag!!"
Grinsend dreht er sich in meiner Umarmung und legt seine Arme um meinen Hals. Lachend gebe ich ihm einen Kuss auf die Wange und errötet ein wenig.
„Ich hab auch noch ein Geschenk für dich", sage ich und löse mich sanft. Ich bedeute ihm, sich auf den Rasen zu setzen und lasse mich neben ihm nieder. Langsam hole ich das dicke, in grünes Geschenkpapier gewickelte, Geschenk aus meiner Tasche und lege es auf seinen Schoss. Ich hoffe es gefällt ihm, ich wusste einfach nicht, was ich ihm schenken sollte.
Vorsichtig friemelt er das Geschenkpapier auf, achtsam, das Geschenk nicht zu beschädigen. Als er sieht, was es ist, lächelt er breit und seine Augen röten sich.
„Danke, das ist ein tolles Geschenk!" Stürmisch umarmt er mich und drückt mich auf den Rasen. Lachend rollen wir umher, wie kleine Kinder. Wie gut das doch tut, diese Unbeschwertheit, ohne Sorgen, dass der beste Freund bald geht.
„Jetzt schau es dir an, na los!"
Wir setzen uns wieder hin und er nimmt das Fotobuch in die Hände, streicht mit dem Daumen über den dicken Umschlag. Auf ihn habe ich unser Freundschaftszeichen gemalt, so banal es auch klingt. Wir beide verbinden viel mit diesem Zeichen, auch wenn es nur ein vierblättriges Kleeblatt mit einem merkwürdigen Punkt in der Mitte, an der die vier Blätter zusammentreffen, ist. Einerseits verbindet es uns mit unserer Heimat, Irland, und andererseits erinnert es uns an den Tag, an dem wir beide ein vierblättriges Kleeblatt gefunden haben. Der Punkt kommt von dem einen Mal, bei dem Niall versucht hat ein Kleeblatt zu malen und aus Versehen einen Punkt in die Mitte gemalt hat.
Vorsichtig öffnet er das Fotoalbum und zwei Miniaturversionen unserer blicken uns entgegen. Wir waren fünf und es war der Tag, an dem unsere Freundschaft begann, unser erster Schultag. Meine roten Haare sind zu kleinen Zöpfen geflochten, ich trage einen dunkelblauen Rock und ein hellblaues T-Shirt mit Schmetterlingen darauf. Voller Stolz halte ich meine Schultüte in die Kamera, auf ihr sind viele Katzen und Herzchen, mittlerweile ist sie mir peinlich, trotzdem habe ich sie geliebt. Links neben mir steht Niall in seinem schrecklichen Bob der Baumeister - T-Shirt, Jeans und einer Spongebob-Schultüte. Er schaut nicht in die Kamera, ganz im Gegenteil zu mir, er grinst stattdessen mich herausfordernd an. Das wird immer eines meiner Lieblingsbilder von uns beiden sein. In diesen zehn Jahren unserer Freundschaft hat sich eine gewaltige Menge an Erinnerungen und Bildern angesammelt. Einige der Fotos habe ich mit Kommentaren versehen, da ich mich noch genau an die Umstände des Bildes erinnern kann. Das Foto, das Niall gerade nachdenklich betrachtet ist auch mit einem meiner Kommentare versehen »Wir sind Superstars!«. Das Bild entstand auf der Hochzeit meiner Tante, an der wir zusammen etwas vorspielen sollten.
Niall sitzt in einem dunkelgrauen Anzug auf einem Stuhl, auf seinem Schoss die alte dunkelbraune Gitarre, die er bis heute noch so vergöttert. Rechts von ihm sitze ich in einem hellblauen Kleid mit hochgesteckten Haaren und meinem Saxophon. Beide schauen wir konzentriert auf den Notenständer vor uns. Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Moment. Schon Wochen vor der Hochzeit mussten wir uns treffen, um dieses Stück zu üben. Jedoch haben wir nie geübt, stattdessen haben wir Quatsch gemacht, bis wir uns beide vor lauter Lachen auf dem Boden rollten, und unfähig waren etwas zu tun. Erst in dem letzten Treffen vor der Hochzeit haben wir geübt, und das funktionierte nicht sonderlich gut. An der Hochzeit selbst saßen Niall und ich dann planlos da und haben irgendwie versucht, das Stück halbwegs vernünftig zu spielen, weswegen wir uns wirklich sehr auf die Noten konzentrieren mussten.
Niall streicht mit dem Daumen über den Kommentar und beißt sich auf die Lippe. Woran er wohl gerade denkt? Nachdenklich tippt er mit seinen Fingerspitzen auf dem Foto herum und blättert dann doch die Seite um. Eine weitere halbe Stunde vergeht und Niall will das Buch auf der vorletzten Seite zuschlagen, wahrscheinlich denkt er, es komme nichts mehr, doch ich halte ihn auf. Auf der letzten Seite befindet sich noch ein kleines Geschenk für ihn.
„Warte, du musst dir noch die letzte Seite anschauen", sage ich und streiche ihm unbewusst mit dem Daumen über die Hand. Er zuckt etwas zurück dann blättert er die letzte Seite um. Dort befindet sich ein letztes Foto von uns beiden, es ist vor zwei Wochen auf dem Homecoming-Ball entstanden, auf den wir gemeinsam gegangen sind. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und ich ein silbergraues Kleid mit hohen Schuhen. Anders als bei den meisten anderen Fotos stehen wir nicht nebeneinander, sondern wir umarmen uns. Darunter steht »Immer in meinem Herzen, vergiss mich nicht. Deine Al.« Darunter ist ein kleines durchsichtiges Beutelchen mit den zwei Freundschaftsketten. Ich weiß, dass wir eigentlich zu alt dafür sind, aber für mich sind sie als Abschied gedacht, so wie das ganze Fotoalbum. Langsam rollt mir eine Träne über die Wange, doch ich wische sie nicht weg. Er weiß nicht, wie viel mir dieses Fotoalbum bedeutet und er denkt auch bestimmt nicht daran, dass es eine Art Verabschiedung von mir ist.
Vorsichtig holt Niall die beiden Ketten aus dem Tütchen und wiegt sie in der Hand. Eine schlichte Kette mit einem "A" für ihn und die Kette mit dem "N" für mich. Er soll mich immer nah an seinem Herzen wissen. Mit glasigen, geröteten Augen schaut er mich an, wischt mir die Träne von der Wange und legt mir die Kette um. Dann lege ich ihm seine um und schaue ihn traurig an.
„War das ein Abschied?", fragt er mit leiser, trauriger Stimme.
Ich antworte nicht, ich muss es gar nicht. Er weiß, dass die Antwort ein Ja ist. Er fällt mir um den Hals und wir beide fangen laut an zu schluchzen. Nach einer Weile löst er sich von mir und schaut mir in die Augen.
"Das soll kein Abschied sein, Al. Ich werde dich nicht verlassen. Und ich werde dich niemals vergessen. Versprochen."
Schon wieder hat er etwas versprochen und es schon sogleich gebrochen.
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Between Us
FanfictionEr ist mein bester Freund, seit wir beide fünf waren. Zusammen sind wir ein unschlagbares Team, einfach unzertrennlich. Mit seinem sechzehnten Geburtstag ändert sich alles. Ein großer Verlust drängt sich in mein Leben und ohne ihn bin ich verloren...