Kapitel 6

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Heute war es so weit. Die Beerdigung von Mum stand an. Ich konnte es kaum glauben. Es ist gerade erst sechs Tage her, dass sie gestorben ist. Alle würden uns deren Beileid bekunden und ihr Mitgefühl zeigen und so.
Auf dem Weg zur Kirche war das Einzige, woran ich denken konnte, wo Mum jetzt war.
Hat sie wirklich ihren Frieden gefunden?
Ist sie jetzt im Himmel?
Kann sie uns sehen?
Als ich aus dem Auto stieg, strich ich mein schlichtes pink-türkises Kleid glatt und atmete tief durch. Vor der Kirche stand ein Meer aus Farben. Meine Mutter hatte immer gesagt, sie wolle später mal niemanden bei ihrer Beerdigung sehen, der schwarz trägt. Die meisten Leute trugen genau wie ich pink und türkis, weil das Mums Lieblingsfarben waren. Noch einmal atmete ich tief durch, bis ich mich in Bewegung setzte und mit Liam an meiner Seite in die Kirche schritt.
Da lag ein weißer geschlossener Sarg mit einem großen pink-lila-blauen Blumenkranz drauf und ein Bild von mum stand daneben. Es zeigte sie in ihren zwanziger Jahren. Sie trug eine Hochsteckfrisur und  ein blaues Kleid, dass ihre schlanke Taille umhüllte.
Sie war  wunderschön.

Die Orgel begann nun zu spielen und unsere Verwandten und Freunde von mum kamen nun auch in die Kirche und wir setzten uns alle auf die Holzbänke dort.
Tante Candice, Onkel George, Liam und ich saßen in der ersten Reihe.
Das Orgelspiel fühlte sich an, wie eine halbe Ewigkeit. Irgendwann begann dann Pastor Willtrees mit seiner Rede. In den Reihen hörte ich Schluchzen und das Rascheln einer Taschentuchpakung. Ich hatte mir vorgenommen stark zu sein, sicher, ob ich es schaffen würde, war ich aber nicht. Ich hörte der Rede schon kaum noch zu, weil ich in Gedanken an die Momente mit Mum vetsunk. Da hörte ich meinen Namen.
"Felicitas Tochter Leni möchte auch noch ein paar Worte sagen."
Mein Herz setze einen Schlag aus.
Es war so weit. Jetzt kam es auf mich an. Ich würde eine schöne Rede halten.
Für Mum. Und alle hier.
Ich atmete noch einmal tief ein, bevor ich mich erhob und auf die Empore zulief. Meine Hände zitterten und ein Kribbeln schoss in meinem Bauch hoch.
Ich schaffe das!
Redete ich mir innerlich zu.
Am Pult angekommen hatte ich einen Überblick über alle Gäste. Es waren nicht sehr viele, weil mum immer sagte: "Man braucht nicht viele Freunde, sondern echte Freunde."
Dann begann ich mit meiner Rede.
"Unsere Mum war eine tolle Mum, eine tolle Tochter, eine Treue und lustige Freundin und sie war noch so viel mehr für uns alle hier. Sie ist viel zu früh von uns gegangen."
Meine Augen fingen an zu brennen und ich spürte, wie sich eine Träne aus meinen Augen löste und über meine Wange huschte. Schnell wischte ich sie mir weg und hielt den Rest, der ihr folgen wollte zurück.
"Ich erinnere mich noch, wie sie mir das Fahrrad fahren beigebracht hat. Als ich hingefallen bin, hat sie mir hochgeholfen und mir gesagt, dass ich nicht so schnell aufgeben soll und das irgendwann so gut könnte, wie sie. Sie hat uns immer Mut zugesprochen und an uns geglaubt. Sie war immer für uns da."
Ich wollte nicht wieder anfangen zu weinen, wie ich es die letzten Tage zu Hause ständig getan hatte, also wechselte ich etwas das Thema.
"Mum hat mir mal gesagt, sie wolle, dass wir alle in bunter Kleidung zu ihrer Beerdigung kommen. Sie wollte niemanden in schwarzer Kleidung sehen. Sie wollte, dass wir feiern, anstatt Tränen zu vergießen. Und würde sie das Bufet sehen, dass draußen aufgebaut ist, würde sie sich gleich daraufstürzen."
Ein Schmunzeln ging durch die Reihen. Auch ich verzog meine Lippen zu einem kleinen Lächeln.
"Aber niemand hätte gedacht, dass sie so bald..." Ich wollte und konnte das Wort nicht aussprechen. Ich setzte noch einmal an. "...das sie jetzt schon nicht mehr hier ist."
Wie sollte ich die Rede beenden? Ich wusste nicht, ob ich noch etwas direkt zu mum sagen sollte oder lieber nicht...kurzerhand tat ich es...ich drehte mich zum Sarg um und legte eine Hand auf den weiß lackierten Sarg. Er fühlte sich hart an, kaum zu glauben, dass mum für immer da drinnen liegen wird.
"Mum...ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber...wir vermissen dich...ich habe dich lieb..."
Nun konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie sprudelten hervor, weshalb ich einfach nur so schnell, wie möglich auf meinen Platz zurück wollte.
Ich drehte mich wieder zu den anderen um und sah, wie Liams Augen immer glasiger wurden, weshalb ich mich entschied meine Rede zu beenden.
"Danke, dass ihr alle gekommen seid."
Sagte ich schnell und hastete zu meinem Platz zurück, denn auch mir liefen abermals Tränen über mein Gesicht.

Heute Abend war auch Liam damit einverstanden, mit zu Candice und George zu ziehen, also machten wir uns auf den Weg dort hin. Es war schon
spät - ich konnte den Vollmond über den riesigen Bäumen das Waldes direkt neben Candice und George's Haus
sehen - als wir mit dem Auto ankamen. Ich wollte meinen Kopf noch ein bisschen frei kriegen, weshalb ich mich entschied noch joggen zu gehen.

Die frische Abendluft roch wunderschön erfrischend und das Einzige, das ich hören konnte, war das leise Rauschen der Blätter im Wind. Die Stille war echt schön, bis ich ein Knacken hörte. Es war sehr laut, was mich darauf schließen ließ, dass wer oder was auch immer das war sehr nah sein musste. Ich blieb vor Schock stehen und wirbelte herum, doch konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Ich hörte ein weiteres knacken, direkt neben mir und erschrak ein zweites Mal. Mein Herz pochte, wie wild. Entweder ich würde in Schockstarre fallen oder sofort losrennen. Es gab nur diese beiden Möglichkeiten, also entschied ich mich für letzteres und sprintete los. Leider war es so schnell finster geworden, dass ich mich in der Finsternis kaum zurechtfinden konnte. Alles sah gleich aus und die Abzweigungen waren mir föllig fremd.
Hier lief ich nun: 
orientierungslos und von irgendetwas verfolgt. Da hörte ich das Knacken wieder und drehte mich um.
Da stand er. Ein Mann, ein angsteinflößender, hochgewachsener Mann. Ich konnte ein Tattoo auf seiner Handaußenfläche erkennen. Vampirzähne oder so.
Er grinste mich schelmisch an und hielt ein Schwert in der Hand.
Was zu Hölle wollte er damit?
Wollte er mich umbringen?
Würde ich so sterben?
Nun setzte sich der Mann in Bewegung.
Was sollte ich machen?
Ich konnte mich nicht bewegen.
Als er nur noch ein paar Schritte von mir entfernt war, raste etwas im Höllentempo auf ihn zu und biss ihn, immer und immer wieder, bis dieser komische Mann ebenfalls im Höllentempo verschwand.

Ein Wolf. Ein prachtvoller, beängstigender Wolf stand nun vor mir. Mein Herz würde mir gleich aus der Brust springen, wenn nichts geschah, also lief ich wieder los. Diesmal so schnell, dass meine Lunge bei jedem Atemzug mehr brannte und ich vor Erschöpfung und Anstrengung keuchte. Ich rannte um mein Leben, bis ich den Wolf wieder sah und zwar diesmal direkt vor mir. Appruppt blieb ich stehen und schrie. Ein paar Sekunden passierte gar nichts, bis der Wolf auf mich zukam. Ich konnte mich nicht rühren, ich hatte viel zu viel Angst. Ich wagte es kaum zu atmen.
Da erreichte mich der Wolf und schlängelte sich durch meine Beine, so wie ein Hund, der gestreichelt werden wollte. Ich erwartete Schmerz oder irgendetwas aber es geschah nichts. 
Ich traute mich trotzdem kaum mich zu bewegen, bis ich bemerkte, dass der Wolf mir nichts tun wollte. Er war zarm, anders als die Wölfe, die man in den Nachrichten oder im Internet sieht. Er heulte auf, was mich heftig zusammenzucken ließ und kurz danach hörte man, wie viele andere Wölfe in der Nähe auch jauelten. Da raschelte es lauter und knackte es lauter als zuvor und ich konnte ungefähr ein Dutzend andere braune, graue und weiße Wölfe entdecken. Sie standen nun im Kreis um mich.
Würden sie mich nun töten? 
War ich ihr gefundenes Fressen?
Würden sie mit mir das gleiche machen, wie der einzelne Wolf mit deisem komischen Mann?
Mein Koof dröhnte und bekam einen weiteren Anflug von Panik. Doch dann setzten sie sich auf einmal in eine Richtung in Bewegung und der zarme Wolf neben mir schob mich sanft mit seiner Schnauze an. Nun ging ich in ihrer Mitte durch die Finsternis und die Haushohen Bäume. Alles kam mir so anders vor, als am Tage, so mystisch.
Ich in der Mitte von einem Rudel Wölfe in der Finsternis. Und da ich orientierungslos war, hatte ich keine andere Wahl, als den Wölfen zu folgen.
Nach einer Weile erblickte ich ein paar Holzhütten. Es sah aus, wie ein kleines verwachsenes altes Dorf mit den Efeuranken, die sich an den Holzhütten entlangrangelten und den Kerzen, die in den Hütten brannten und die Finsternis etwas zurückdrengten. Es sah mystisch und wunderschön aus. Während wir auf eine der Holzhütten zumaschierten, spürte ich einen kleinen Hauch von Freiheit. Hier draußen bei den Wölfen in der Finsternis. Es war ein kleiner Adrenalinkik.
Als wir die Hütte erreicht hatten, schob der zarme Wolf die Tür auf und deutete mir, dass ich hineingehen sollte. Als ich eintrat sah ich eine große Matratze, auf der eine große Decke und zwei Kopfkissen lagen. Durch den Kerzenschein wirkte es etwas romantisch, doch das konnte ich nicht fühlen, denn ich war umgeben von einem Rudel Wölfe im dunklen, riesigen Wald.
Der Wolf setze sich neben der Matratze auf den Boden, also tat ich es ihm gleich und setze mich auf die Matratze. Er zog mir die Decke über die Beine, beobachtete mich noch einen Moment und verschwand dann in der Finsternis.
Sollte ich hier schlafen?
Haben Sie mich deshalb hierhergebracht?
Wollen Sie mir Unterschlupf gewähren, weil ich in der Finsternus nicht nach Hause finde?
Was zur Hölle war hier los?
Und wer war dieser Schwert-Mann vorhin gewesen?
Ich war zu müde um auf all das eine Antwort zu finden. Meine Augen fielen zu und ich schlief ein. 

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