Prolog: Funken der Erinnerung

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«Nicht jede Dunkelheit birgt Gefahren, doch manche Schatten erzählen Geschichten, die man lieber nicht hören sollte.»

Heulender Wind peitschte über das in die Jahre gekommene Backsteinhaus in der Vastonstraße 8 hinweg und ließ die Fensterscheiben im ersten Stock gefährlich klirren. Die schmale gepflasterte Straße vor den verschlossenen Eisentoren war stets mit Unkraut bedeckt. Ein einzelner Baum wuchs haushoch im von wildem Gestrüpp überwucherten Garten. Er trotzte tapfer dem Wind, doch bog sich gefährlich zu den immer heftiger werdenden Böen.

Im Inneren des Hauses war es lautlos, allein die hölzerne Uhr im Schlafbereich der Mädchen durchbrach mit ihrem monotonen Ticken die unheimliche Stille, welche sich wie ein durchsichtiger Schleier über das abgeschiedene Kinderheim gelegt hatte. Hier erinnerte nichts an ein Zuhause. Die Wände waren kahl und kalt. Braune Teppiche, von Mäusen zerfressen, säumten den langen dürftig eingerichteten Schlafsaal.

Das Heim in Cheffird war bekannt für seine strengen Regeln und seine unerbittlichen Bestrafungen. Vor allem Miss Letaness war stets mit einem Lächeln auf ihren schmalen Lippen bereit, diese tatkräftig umzusetzen. Schmerzhaft dachte ich an ihre wulstigen Pranken, die ständig nach mir zu greifen schienen.

Mein Vater pflegte damals stets zu sagen, dass ich das Talent, mich in schwierige Situationen zu katapultieren, von ihm geerbt hätte. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich an meine Familie dachte, und ließ mein Herz schwer werden. Ich sehnte mich nach Mutters Umarmungen und den tröstenden liebevollen Worten meines Vaters. Doch sie waren nicht hier und Trauer erfüllte jede Faser meines Körpers. Sie würden nie wieder bei mir sein. Würde ich jemals wieder Geborgenheit fühlen? Grimmig schürzte ich meine Lippen und blinzelte tapfer die aufkommenden Tränen fort.

Vor den anderen Kindern Schwäche zu zeigen war im Kinderheim ein fataler Fehler. Ich fasste mir an die Schläfe. Eine silbern schimmernde Narbe verlief dort und erinnerte mich jeden Tag daran, wie schnell man zum Ziel von Spott werden konnte. Ein tiefes Donnergrollen ließ mich erneut zusammenzucken.

Mein Blick wanderte zaghaft zum vergilbten Fenster. Die weiße Rahmenfarbe blätterte bereits ab und es zog ungemütlich in den Schlafsaal hinein. Grelle Blitze zuckten über den Himmel und erleuchteten die stockfinstere Nacht. Meine langen Finger hielten die zerschlissene Decke fest umklammert. Eine unangenehme Gänsehaut durchzog meinen schmalen Körper und ließ mich zittern. In ein paar Stunden würde die Sonne wieder aufgehen. Ich biss mir auf meine Unterlippe, bis ich Blut schmeckte. Ich musste mutig sein.

Da drangen schwere gleichmäßige Schritte auf der hölzernen Treppe an meine Ohren. Lauschend wagte ich nicht zu atmen. Für einen Moment war das Unwetter vor meinem Fenster fast vergessen und meine Neugier geweckt. Wer wäre so töricht mitten in der Nacht in einem Kinderheim umher zu wandeln?

Wenn Miss Letaness davon erfuhr, würde sie denjenigen wieder für drei Tage in den Keller sperren. Nur der Gedanke daran schickte weitere Schauder über meine Haut. Ein knarzendes Geräusch ließ mein Herz noch schneller schlagen. Ich krallte mich fester in die kratzende Bettdecke und zog sie über meine von Sommersprossen verzierte Nase. Eine winzige Öllampe erhellte den Flur. «Miss Kingsley, ich werde mich eilen, Ehrenwort.» Eine kindliche Stimme erfüllte leise den dunklen Flur und sofort entspannte ich mich.

Miss Kingsley war eine noch recht junge Frau mit glänzenden blonden Haaren und strahlend blauen Augen, die stets eine Mischung aus Melancholie und Wärme für uns ausstrahlten. Für viele war sie wie ein Fels in unserer tosenden Brandung. Sie war der Funken Licht in unserer Dunkelheit und hinderte uns daran, uns in unserem Strudel aus Einsamkeit und Kummer zu verlieren. «Mach schnell, mein Junge.» Ihr Flüstern verebbte. Die Tür öffnete sich noch ein Stück und ein dunkler Haarschopf lugte vorsichtig hinein. Seine langen braunen Haarsträhnen hingen ihm wirr ins Gesicht und verdeckten seine Augen.

Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen, doch ein erneutes Donnergrollen wischte es sogleich wieder hinfort. Der Junge tapste nun zielstrebig und mit gestrafften Schultern in den Schlafsaal der Mädchen. Nun etwas mutiger schälte ich mich zur Hälfte aus meiner Decke und stützte mich mit den Ellbogen auf der steifen mit Pferdehaar gefüllten Matratze ab. Das Licht der Lampe erhellte den Saal nur spärlich und warf unheimliche Schatten auf den staubigen Holzboden. Ich blickte mich hektisch um, doch in den Betten um mich herum war es ruhig. Sanftes Schnarchen erfüllte die Luft.

«Lilly?» Es war nur ein Flüstern, zart und leise drang es an meine kindlichen Ohren und mein Blick schoss automatisch wieder zu ihm. Der Junge blieb stehen und ließ seinen Blick über den Schlafsaal wandern. «Hier hinten.» Meine Worte waren wie das Piepsen einer Maus, kurz und hoch, doch Sam hatte sie gehört. Nun das Ziel fest vor Augen, setzte er sich wieder in Bewegung und seine kleine Gestalt kam wenig später neben meiner Holzliege erneut zum Stehen. Er musterte mich, ehe er sich vorsichtig auf mein Bett setzte. «Geht es dir gut?»

Er klemmte seine aufgeplatzte Unterlippe zwischen seine Schneidezähne und wischte sich in einer fahrigen Bewegung mit dem Handrücken über sein rundliches Gesicht, um die widerspenstigen langen Strähnen aus seinem Sichtfeld zu streichen. Seine Sorge rührte mich. Er wusste, welche Angst mir Gewitter bereiteten. Sam war aufgestanden, als alle anderen Kinder mit dem Finger auf mich zeigten und über meine Angst lachten, als ein plötzliches Gewitter aufkam. Ich hatte mich in der Toilette versteckt und vor Furcht bitterlich geweint. Sam hatte sich vor meine Tür gesetzt und stundenlang geredet, bis das Wetterleuchten vorüber gezogen war. Ich brachte ein klägliches Nicken zustande. Sam zeigte heimlich in Richtung der Tür, die noch immer einen Spaltbreit offen war. «Ich musste mich an der Schreckschraube vorbeischleichen und dann traf ich Miss Kingsley im Flur.» Ein Grinsen huschte über seine spröden Lippen.

«Ich habe ein Geschenk für dich. Damit du keine Angst mehr haben musst. Nie wieder.» Vor Aufregung zierten rote Flecken seine kindlichen Wangen. Ich nickte erneut und schälte mich nun endgültig aus meiner rauen Bettdecke. Er rutschte näher zu mir heran, unsere Arme berührten sich und sein warmer Atem streifte mein Gesicht. Ein weiteres Donnergrollen ließ mich noch etwas näher heranrutschen. Seine grünen Augen blitzten geheimnisvoll auf und die pure Neugierde packte mich. Was hatte er gefunden?

Er ließ die Lampe vorsichtig in seine rechte Hand wandern und begann mit der anderen in seiner abgetragenen Hose nach etwas zu suchen. Stumm musterte ich ihn. Sam war älter als ich, doch wir waren beide im selben Jahr ins Kinderheim von Cheffird gekommen. Sam zog seine Hand wieder aus der Hosentasche und etwas Glänzendes blitzte zwischen seinen Fingern, die er schnell zu einer Faust schloss, hindurch. «Ich dachte mir, du würdest es mögen.» Nervös rutschte er auf meiner harten Matratze hin und her. Ich griff interessiert nach seiner Hand, wollte endlich wissen, was er vor mir geheim hielt. Langsam öffnete er seine kleine Hand und ich riss meine Augen vor Überraschung weit auf.

Ein winziger mit Symbolen verzierter Anhänger lag in seiner Handfläche. «Wo hast du den denn gefunden?» Vor Euphorie war meine Stimme lauter geworden und Sam sah mich warnend an. «Psst! Willst du das die anderen ihn auch sehen? Dann nimmt man ihn dir weg!» Energisch schüttelte ich den Kopf und ließ meinen Blick schnell durch den Saal wandern. Wir durften keine persönlichen Gegenstände behalten, Miss Letaness hatte uns alles abgenommen, was wir besaßen. Wenn sie ihn finden würde, wäre der Schmuckanhänger für immer verloren. Als Sam ihn schließlich in meine geöffnete Hand legte, erfüllte ein leises, kurzes Summen die Luft.

Ich sah Sam fest in die Augen und umschloss seine Hand mit meiner. «Das hier ist unser Geheimnis, okay?» Nun war er es, der entschlossen nickte. «Du musst mir versprechen, dass niemand jemals von dem Anhänger erfährt! Du musst es mir schwören!» Er setzte die Öllampe auf dem Boden ab und streckte seinen kleinen Finger in die Luft. «Schwör es mir Lilly! Solange wir diesen Anhänger besitzen wird unsere Freundschaft niemals enden.» Und so hielt ich ihm meinen kleinen Finger entgegen und wir schworen uns ewige Freundschaft.

Doch als ich das seltsame Flüstern hörte, wusste ich, dass diese Nacht mehr als nur Blitz und Donner barg. Irgendetwas hatte sich verändert – und ich war bereit, es um jeden Preis herauszufinden.

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