Das Haus am Ende der Gasse

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Severus Snape dankte Merlin, Salazar und allen Entitäten, die er kannte, dass er ein Meister der Okklumentik war. Wäre er es nicht, hätte er vor Panik keinen klaren Gedanken fassen können. Voldemort! Bei Potter zu Hause. Und nicht nur das! Der Dunkle Lord schien ein Interesse daran zu hegen, dass der Junge den nächsten Tag erlebte.

War Harry Potter nicht der Grund für das Ende seiner Herrschaft? War er nicht schuld daran, dass sich der Dunkle Lord in dieser geisterhaften Form der Nicht-Existenz befand? Wofür brauchte er den Jungen? Und wie sollte er Dumbledore davon berichten und trotzdem so wirken, als wenn er die Pläne des Dunklen Lords unterstützte? Es war wichtiger denn je, dass er sich als Spion nicht enttarnte. Nur, wie sollte er das tun, wenn der Dunkle Lord in seinem Haus logierte?

Neben ihm tat Potter einige vorsichtige Atemzüge. Offenbar war ihm übel. Das fehlte noch, dass sich der Junge auf seine Schuhe erbrach. Vorsichtig blickte er sich um, doch vom Dunklen Lord war gerade nichts zu sehen. Dennoch war es eindeutig zu früh, sich zu entspannen. Offenbar besaß Voldemort in dieser neuen Form die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen.

„Geht es wieder?", fragte Snape mit einem Hauch von Ungeduld.

Potter sah nicht mehr ganz so blass aus und hatte begonnen, sich umzusehen. Offenbar war das schlimmste überstanden. Für einen Moment fragte sich Severus, was der Junge sehen musste. Sein Haus in Spinner's End war so düster und heruntergekommen wie eh und je. Die Wände waren rußgeschwärzt, es roch nach Abfall und im Hintergrund ragte der Schlot eines Fabrikgebäudes empor.

„Trautes Heim, Glück allein", sagte Snape sarkastisch und schloss die Tür auf.

Das Innere war genauso schäbig, wie es von außen wirkte. Die geblümten Tapeten waren fleckig und ausgeblichen, das Sofa und die Teppiche zerschlissen und heruntergekommen. Das ganze Haus machte einen düsteren, unbewohnten Eindruck.

Severus schluckte das vertraute Gefühl von Scham hinunter. Er scheuchte Potter über eine knarrende Treppe in das obere Stockwerk und dort in ein kleines, braun gefliestes Badezimmer. „Waschen Sie sich. Merlin, Sie haben es nötig. Handtücher finden Sie hier auf der Anrichte. Und fühlen Sie sich nicht zu heimisch. Sobald ich mit dem Schulleiter gesprochen habe, werden wir wissen, wie es mit Ihnen weitergeht."
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, schloss Snape die Tür.

Das letzte, was er sah, war der trotzige Blick des Jungen.

Draußen auf dem Flur tat Severus einige tiefe Atemzüge. Potter war ein weiteres Problem. Er war mit dem konkreten Ziel, den Jungen zu hassen, in den Ligusterweg gekommen. Er hatte ein verzogenes Balg erwartete, einen Prinzen, dem alles in den Schoß gelegt wurde und der mehr bekam, als er sich wünschen konnte. Was er gefunden hatte, war ein vernachlässigter Junge, der ihn mit beunruhigender Eindringlichkeit an seine eigene Kindheit erinnerte. Auch ohne die Worte des Dunklen Lords hätte er Potter nicht im Ligusterweg zurücklassen können. Nicht, nachdem er die Wahrheit mit eigenen Augen gesehen hatte. Das hieß jedoch nicht, dass er den Jungen mochte. Oder den Blick dieser grünen Augen ertragen konnte.

Als er sich umwandte, sah er sich Lord Voldemort gegenüber. Mit aller Macht bemühte er sich, seine Überraschung nicht zu zeigen. Wie lange hatte ihn sein einstiger Meister bereits aus den Schatten beobachtet? Und welche Schlüsse hatte er dabei gezogen? Severus ging auf die Knie. „Mein Lord."

Nach einer Weile wagte er es, den Kopf zu heben – und blickte in ein äußerst verdutztes rotes Augenpaar. „Verzeihung?", fragte der Dunkle Lord.

Gleichermaßen verdutzt schulte Severus seine Gesichtszüge zu einer neutralen Maske. „Ich war mir sicher, Ihr hattet Eure Gründe, Eure Identität vor dem Jungen zu verheimlichen. Doch ich bin Euer treuer Diener."

Rote Augen weiteten sich alarmiert. „Sie sind ein Diener von diesem ..." Einen Moment wirkte er so, als machte er sich bereit, an Severus vorbei in Richtung Badezimmer zu fliegen und Harry aus diesem Haus freizukämpfen. Aber das war vollkommen abwegig. Worum sollte Lord Voldemort das tun? Außer natürlich ...

„Warten Sie", Severus Augen verengten sich. „Sie sind nicht der Dunkle Lord?"

Perplex erwiderte das Wesen seinen Blick. „Sehe ich aus wie ein hirnverbrannter Idiot, der in seiner Freizeit gerne Kinder tötet?"

Snape antwortete nicht. Er wusste wirklich nicht, was in diesem Fall die richtige Antwort auf die Frage war.

Das Wesen rollte mit den Augen. „Vergessen Sie die Frage. Aber wenn Sie Harry nur ein Haar krümmen, dann bekommen Sie es mit mir zu tun!"

„Ich ... ich habe nicht vor, dem Jungen zu schaden."

„Ach so?", fragte das Wesen nicht überzeugt.

Langsam sickerte das durch, was das Wesen gerade zu ihm gesagt hatte.

„Sehe ich aus wie ein hirnverbrannter Idiot, der in seiner Freizeit gerne Kinder tötet?"

Niemals, niemals würde der Dunkle Lord sich selbst auf diese Weise beschreiben. Auch nicht, wenn er nicht erkannt werden wollte. Er war zu eitel, zu sehr von sich eingenommen, für solche Worte. Und das konnte nur eines bedeuten:

Dieses Wesen war nicht Lord Voldemort.

Und er, Severus Snape, hatte sich vollkommen lächerlich gemacht. „Wer sind Sie?", fragte er schneidend.

Das Monster neigte den Kopf zur Seite, ganz so, wie es der Dunkle Lord früher getan hatte. Aber seine Worte waren gänzlich anders. „Ich denke, ich habe mich bereits vorgestellt. Aber für den Fall, dass Sie meinen Namen vergessen haben sollten: Er lautet Tom."

Tom. Wie der Dunkle Lord. Dumbledore hatte genug Informationen mit ihm geteilt, dass er den Kindheitsnamen seines einstigen Herrn kannte. Konnte es wirklich so viele Zufälle geben?

Das Monster betrachtete ihn misstrauisch. „Sie sagen, Sie sind ein Diener Voldemorts? Wie soll ich Ihnen dann glauben, dass Sie Harry nicht schaden wollen?"

Severus beschloss mit der Wahrheit zu gehen, die ohnehin vielen bekannt war. Sollte sich die Situation ändern, wäre es allzu leicht zurückzurudern. „Ich ... bin ... war Dumbledores Spion. Während des Krieges lieferte ich ihm Informationen über den Dunklen Lord."

Tom betrachtete ihn eingehend. Was oder wer er auch immer war, er besaß einen scharfen Verstand. „Und ich bin mir sicher, der Dunkle Lord hielt Sie ebenfalls für seinen Spion?"

„Das ist der Sinn eines Doppelagenten."

„Dann werden Sie verzeihen, dass Ihre Versicherungen auf mich wenig überzeugend wirken."

Snape biss die Zähne zusammen. „Sie wissen nicht, wie sehr ich Ihnen mit diesen Informationen entgegengekommen bin."

„Und was soll mir das nützen? Seit Jahren bin ich ein hilfloser Beobachter, dazu verdammt, mitanzusehen wie mein Schützling von seinen Verwandten schikaniert wird. Und jetzt ergibt sich endlich die Gelegenheit, Harry von dort wegzubringen und die vermeintliche Rettung entpuppt sich als ein Anhänger des Mannes, der seine Eltern ermordet hat!"

„Gerade scheinen Sie mir nicht besonders hilflos zu sein."

Stumm hielt Tom dem Blick des Zauberers stand.

„Ah, ich verstehe was Sie tun", sagte der Tränkemeister triumphierend. „Sie zehren von der Magie des Jungen, nicht wahr? Sie sind gar keine eigenständige Persönlichkeit!"

Wut glomm in den roten Augen. „Bei ihrer Vorgeschichte denke ich offenbar eigenständiger als Sie!"

Das Monster und der Mann funkelten sich an. „Wagen Sie es nicht, mich zu beleidigen!", zischte Snape gefährlich leise.

„Sie werden weder Harry noch mich herumschubsen, Professor Snape", sagte Tom kühl. „Wenn Sie jetzt die Güte hätten, meinem Schützling eine Kleinigkeit zuzubereiten? Er hat heute noch nichts gegessen."

„Sie wagen es, mich in meinem eigenen Haus herumzukommandieren?"

„Ich bitte Sie nur um das, was ohnehin jeder gute Gastgeber tun würde", erwiderte das Wesen ungerührt. „Wenn Ihr Plan aufgeht, sind Sie uns ohnehin in wenigen Stunden los."

Snape wandte sich ab und rauschte davon. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, damit sie nicht vor Wut zitterten. Dieses Wesen machte ihn rasend. Die kühle Bestimmtheit, in der es Forderungen stellte, die unbeeindruckte Art, in dem es ihm in die Augen blickte und dass es ihm trotz allem auf irritierende Weise an den Dunklen Lord erinnerte .. er musste hier raus. Ansonsten ging hier noch irgendetwas zu Bruch.

XXX

Harry hatte Stimmen auf dem Gang gehört. Über das Rauschen des Wassers war er sich allerdings nicht sicher, was gesagt worden war. Nur soviel wusste er mit Bestimmtheit: Es hatte Streit gegeben. Als er mit nassem Haar das Badezimmer verließ, bewegte er sich so vorsichtig wie möglich. Die ganze Atmosphäre des Hauses schien ihm bedrückend. Und Snape selbst jagte ihm einen Schauder über den Rücken. Doch als er die Küche erreichte, wartete dort ein dampfender Teller Nudeln mit Soße auf ihn. Harry warf Snape einen misstrauischen Blick zu. „Ist der für mich?"

„Sehen Sie hier weitere hungrige kleine Jungen?", fragte Snape unwirsch.

Als Harry ihn anfunkelte, rollte der Tränkemeister mit den Augen. „Natürlich ist der für Sie."

Zögernd nahm Harry am Tisch Platz. Tom saß ihm gegenüber. Seine Silhouette flackerte wie eine Flamme bei starkem Wind. Er würde nicht mehr lange für Snape sichtbar sein. Nichtsdestotrotz lehnte er sich besorgt zu Harry hinunter. „Wie geht es dir?"

Harry griff nach einer Gabel und drehte die Spagetti darum. Erst jetzt bemerkte er, wie hungrig er war. „Worüber habt ihr gestritten?"

Tom gab ein dunkles Schmunzeln von sich. „Professor Snape hält mich für den Mörder deiner Eltern."

Das entlockte Harry ein Lächeln.

Gespielt beleidigt sah Tom ihn an. „Du findest das lustig?"

Harry nickte. „Das ist total abwegig."

„Warum?", fragte Tom dramatisch. „Bin ich etwa nicht böse und gefährlich?"

Nun lachte Harry wirklich. „Du siehst nur so aus. In Wirklichkeit hattest du Schwierigkeiten, für Sally Fliegen zu sammeln."

Toms Augen funkelten vor Belustigung. „Aber nur deshalb, weil ich sie nicht berühren kann."

„Das ist nur eine Ausrede!"

„Also hör mal!"

„Stimmt doch!"

„Harry Potter!", sagte Tom mit gespielt strenger Miene. „Sei still und iss deine Nudeln!"

Harry wischte sich Lachtränen von den Wangen.

Snape hatte die Interaktion der beiden schweigend beobachtet. Wenn es noch einen Beweis gebraucht hätte, dann hatte er ihn hier gefunden. Wer immer dieser Tom auch war, mit Voldemort hatte er so wenig gemein wie Nagini mit einer gewöhnlichen Blindschleiche. Niemals würde sich der Dunkle Lord auf diese Weise verstellen. Das würde sein Stolz nicht zulassen. Und niemals würde er lachen, wenn ihn ein Junge mit Tomatensoße besprenkelte. Was auch immer Tom auch sein mochte, Lord Voldemort war er nicht. Snape verfluchte sich für seinen Ausbruch auf dem Gang. Warum nur hatte er Tom darauf angesprochen? Diese Unbedachtheit würde alles verkomplizieren. Aber er war sich so sicher gewesen.

In diesem Moment flackerte der Kamin in grünem Licht auf und Dumbledores Gesicht erschien darin. „Severus, mein Lieber. Ich gehe davon aus, Sie haben Harry einen Besuch abgestattet?"

Der Tränkemeister erhob sich ruckartig. „Der Junge mitsamt seinem unsichtbaren Freund, sitzt gerade in meiner Küche. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn sie etwas dagegen unternähmen, Dumbledore."

Die Augen des Schulleiters begannen zu funkeln. „Sie haben sich des Jungen angenommen?"

Snape rollte mit den Augen. „Kommen Sie durch und bereinigen Sie das Schlamassel, das Sie angerichtet haben."

„Mit großem Vergnügen", erwiderte der Schulleiter jovial und verschwand aus den Flammen. Wenige Sekunden später betrat Albus Dumbledore die düstere Küche von Spinners End.

Harry vergaß seine Nudeln und riss die Augen auf. Er hatte nicht viel Erfahrung mit Märchen, genauso wenig wie mit Zauberern, aber genau so stellte er sich einen vor.

„Einen guten Abend allerseits", grüße Dumbledore freundlich in die Runde. Dann richtete er das Wort an Harry„Ich bin Albus Dumbledore, Schulleiter von Hogwarts. Ich weiß nicht, ob es dir bekannt ist, aber deine Eltern sind dort zur Schule gegangen."

Harry vergaß zu antworten. Er war vollkommen damit beschäftigt, Dumbledore anzustarren.

„Schließe den Mund", sagte Tom nicht unfreundlich. „Sally ist noch nicht einmal da, um ihr die Fliegen zu füttern, die du auf diese Weise fängst."

Sofort lagen Dumbledores Augen auf Tom. „Mrs Figg berichtete mir von einem unsichtbaren Freund. Aber so unsichtbar scheinen Sie nicht zu sein", stellte er vergnügt fest.

„Ich bin nur sichtbar wenn ich von Harrys Magie zehre. Und dies ist ein Wissen, über das wir noch nicht lange verfügen. Ich werde mich nicht oft und nur unter Harrys Einverständnis zeigen. Unter den heutigen Umständen hielten wir es für gerechtfertigt."

Er warf Harry einen fragenden Blick zu, auf den dieser nickte.

Dann richtete das Monster seine Aufmerksamkeit erneut auf Dumbledore. „Davon abgesehen ist es mir eine Freude, sie kennen zu lernen, Schulleiter."

„Ah, die Freude ist ganz auf meiner Seite", erwiderte Dumbledore. „Man berichtete mir, Ihr Name sei Tom?", fragte er neugierig.

„Harry hat mir den Namen gegeben. Er listete die Namen von Jungen aus seiner Nachbarschaft auf. Dieser gefiel mir am besten."

„Ah, ich verstehe", sagte Dumbledore langsam. „Bitte verzeihen sie die Neugier eines alten Mannes, aber darf ich fragen, was Sie genau sind?"

„Harrys Mutter gab ihr Leben um Harry vor Voldemort zu retten. Ich bin die Manifestation des Schutzzaubers, der Harry seitdem beschützt."

Sinnierend strich sich der Schulleiter über seinen langen Bart. „Voldemort?", fragte Dumbledore neugierig. „Es gibt nicht viele, die es wagen, diesen Namen zu gebrauchen."

Tom schnaubte verächtlich. „Es ist nur ein Name. Und dazu nicht einmal ein guter." Aus den Augenwinkeln sah er, wie Snape ihm einen kalkulierenden Blick zuwarf.

Dumbledore schmunzelte. „Ich muss zugeben, dass Sie einen formidablen Wächtergeist abgeben." Er warf Snape einen Blick zu. „Schätzte Lily nicht die Geschichten von Lovecraft und Edgar Ellen Poe?"

„Ich denke nicht, dass gerade ihre Lesepräferenzen zur Diskussion stehen", erwiderte Snape abwehrend.

Dumbledores Augen funkelten. „Da wäre ich mir nicht so sicher, Severus.Finden Sie nicht, dass es passt? Lily wäre niemand, der einem Wächtergeist die Gestalt eines rosa Einhorns geben würde, wenn Sie verstehen, was ich meine."

„Möglich", räumte Snape widerstrebend ein. „Allerdings frage ich mich, worauf Sie hinaus wollen."

Dumbledores Augen funkelten. „Nun, es scheint, dass Lily uns deutlich mehr zurückgelassen hat, als wir dachten."

Snape schwieg. Er bedachte Tom mit einem Blick, als würde er inbrünstig nach etwas suchen und gleichzeitig nicht sicher sein, ob er es wirklich sehen wollte.

Nach einer Weile ergriff Tom das Wort. „Ich verstehe Ihr Interesse daran, das Rätsel meiner Identität zu lösen. Doch viel wichtiger wäre für mich zu wissen, wie es mit Harry weitergehen soll."

Dumbledore blickte von Tom über Snape. Zuletzt blieb sein Blick an Harry hängen. „Ich nehme an, das Sie hier sind, weil der Weg zurück keine Option darstellt?"

„Nein!", rief Harry hastig. „Ich will nicht zurück!" Sein Blick richtete sich auf Snape. „Aber ich will auch nicht zu jemand anderem, der mich nicht will."

Der Tränkemeister holte tief Luft. „Als ich zum Haus der Dursleys ging, dachte ich, einen verwöhnten Satansbraten anzutreffen, der irgendwie den Kindheitsnamen des Dunklen Lords herausgefunden hat und sich mit allen einen dreisten Spaß erlaubt."

Harry starrte ihn entrüstet an und Snape hob die Hand. „Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich einem Missverständnis aufgesessen bin. Der Junge wurde in diesem Haus bestenfalls geduldet, Albus."

„Er schläft in einem Schrank unter der Treppe", ergänzte Tom voller Inbrunst. „ Schon jetzt wird er von seiner gesamten Familie wie ein Hauself behandelt. Bei jedem noch so kleinsten Ausbruch von Magie wird er tagelang in den Schrank gesteckt. Er bekommt kein gutes Wort von seinen Verwandten und oftmals noch nicht einmal ausreichend zu essen. Harry kann dort nicht mehr bleiben."

Harry war während seinen Worten auf dem Stuhl zusammengesunken. „Schon gut, Großer", murmelte Tom beruhigend. „Deine Verwandten sollten sich schämen. Du kannst nichts dafür."

„Ich weiß", murmelte Harry. Seine nächsten Worte waren so leise, dass sie nur Tom verstand. „Ich weiß, dass du recht hast. Dass es nicht richtig war, wie sie mich behandelt haben ... aber manchmal denke ich, ob es hätte anders werden können. Wenn ich mich mehr angestrengt hätte ..."

„Unsinn", erwiderte Tom sanft. „Du bist ganz wunderbar so wie du bist. Und wenn deine Verwandten dich nur einmal richtig angeschaut hätten, dann wüssten sie das. Du gehörst zu Menschen, die sehen, wie einmalig du bist."

Harry schenkte Tom ein vorsichtiges Lächeln. Dann reckte er sich mit neuer Entschlossenheit in die Höhe. „Ich will nicht zurück zu den Dursleys."

„Ich verstehe", sagte Dumbledore leise. Reue und Wehmut lagen in seinen Augen. „Ich muss gestehen, dass ich derjenige war, der dich vor zehn Jahren auf ihre Türschwelle legte. Petunia war deine letzte lebende Blutsverwandte. Ich hoffte inständig, dass sie dich als Teil ihrer Familie aufnehmen würde. Außerdem erlaubte mir die Kraft ihres Blutes, Lilys Schutzzauber auf ihr Haus auszudehnen. Auf diese Weise warst du all die Jahre vor Voldemort und seinen Dienern sicher. Du musst wissen, Harry, dass einige von ihnen noch immer dort draußen sind. Sie sind begierig darauf, Ihren Herrn zu rächen. Das Haus der Dursleys ist für dich ein zuverlässigerer Schutz als es jeder magische Familie wäre. Bist du dir trotzdem sicher?"

Harry nickte entschieden. Dumbledore blickte ihn lange an. Dann schlich sich ein Lächeln auf seine Züge. „Nun, die Sommerferien haben gerade begonnen", sagte Dumbledore vergnügt. „In wenigen Wochen wird Harry seinen Brief nach Hogwarts erhalten. Es wäre nur anstrengend und verwirrend für alle Beteiligten, ihn in diesem Zeitraum noch irgendwo anders unterzubringen. Severus, wie wäre es, wenn er bis auf weiteres einfach hier bleibt?"

Snape biss die Zähne zusammen. „Es war so klar, dass Sie diese Lösung präferieren würden."

„Es ist das leichteste für alle", erwiderte Dumbledore und rieb sich vergnügt die Hände.

„Sicherlich für Sie", erwiderte Snape kühl.

Harry und Tom tauschten einen Blick.

„Ich denke, wir haben uns deutlich ausgedrückt", erwiderte Tom schneidend. „Harry wird nirgendwo bleiben, wo er nicht erwünscht ist."

„Das habe ich damit nicht gemeint", erwiderte der Tränkemeister widerstrebend. Noch immer lag sein forschender Blick auf Tom. „Mr Potter kann bleiben. Und da Sie ohnehin nicht zu trennen sind, gilt dieses Angebot auch für Sie. Es sind immerhin nur ein paar Wochen."

„Ich danke Ihnen für die großzügige Einladung", sagte Tom kühl.

„Ich bin kein herzlicher Mensch und werde mich nicht plötzlich in einen verwandeln. Entweder kommen Sie damit zurecht, oder der Schulleiter wird doch noch ein Arrangement für sie treffen müssen."

„Was meinst du, Harry?", fragte Tom sanft.

Der Junge warf Snape einen misstrauischen Blick zu.

„Kann ich es mir ein paar Tage überlegen? Ob es für uns beide funktioniert?"

„Selbstverständlich", sagte Dumbledore zufrieden. „Auch wenn es nur kurzfristig ist – jeder von euch sollte sich in dieser neuen Situation wohlfühlen."

Snape warf Dumbledore einen düsteren Blick zu, sagte jedoch nichts.

Harry gab ein Gähnen von sich und hielt sich hastig die Hand vor den Mund.

Tom blickte auf die Uhr und gab ein Seufzen von sich. „Es ist schon viel zu spät. Es wird Zeit, dass du ins Bett kommst."

Snape erhob sich. „Ich zeige Ihnen das Gästezimmer." Er warf Tom einen fragenden Blick zu. Der schüttelte mit dem Kopf. „Ich verschmelze einfach mit den Schatten des Zimmers."

Snape hob eine Augenbraue. „Nun, so bedarf es zumindest keines weiteren Bettes."

Nachdem sie sich von Dumbledore verabschiedet hatten, führte Snape Harry und Tom die Treppe herauf und in ein angrenzendes Zimmer.

Harry stand ein wenig verloren in dem fremden Zimmer. Es war so muffig und heruntergekommen wie der Rest des Hauses. Ein brauner Teppich bedeckte den Boden. Die einstmals weiße Tapete war gelblich verfärbt und die geblümten Vorhänge verblichen und fadenscheinig. Mit ein paar Schwenkern von Snapes Zauberstab verschwand der muffige Geruch, das Bett wirkte wie frich bezogen und ein Glas Wasser erschien auf der Anrichte.

"Wow", murmelte Harry beeindruckt.

Snape überging den Kommentar. „Mein Schlafzimmer ist den Flur hinunter. Eine angenehme Nacht wünsche ich." Brüsk wandte er sich ab und ging, woher er gekommen war.

Toms Erscheinung hatte an Substanz verloren. Harry wusste mit Bestimmtheit, das er nun wieder der einzige war, der ihn sehen und hören konnte.

Er kuschelte sich in das Bett und drehte sich an die Wand, um den fremden, ungastlichen Raum nicht sehen zu müssen.

Seufzend ließ sich Tom über der Bettkante nieder. „Es tut mir leid, Harry. Ich hatte gehofft, dich an einen besseren Ort zu bringen. Doch wie es aussieht, ist alles genau wie zuvor."

Harry schenkte ihm ein halbes Lächeln. „Du meinst, wir beide gegen den Rest der Welt?"

Tom nickte. „So etwas in der Art." Er schenkte seinem Schützling ein zärtliches Lächeln. „Wie wäre es, wenn du versuchst, etwas zu schlafen? Ich passe auf, dass dir nichts passiert."

Hoffnungsvoll blickte Harry ihn an. „Wie wäre es mit einer Gute-Nacht-Geschichte?"

Toms Blick wurde warm. Dann begann er zu erzählen.

XXX

In der Küche von Spinners End saßen Dumbledore und Snape beisammen.

„Ich kann nicht fassen, wie Sie mich in diese Sache hinein manipuliert haben", brachte der Tränkemeister mit gebleckten Zähnen hervor.

„Ich habe nichts weiter getan, als eine Tatsache anzuzeigen, Severus."

„Lügen Sie mich nicht an! Glauben Sie wirklich, dass Tom ein Überbleibsel von Lily ist?"

„Ja, Severus, das glaube ich tatsächlich", erwiderte Dumbledore ernst.

Ungläubig blickte ihn der Tränkemeister an.

Seufzend faltete der Schulleiter seine Hände in seinem Schoß. „Tom ist ganz eindeutig ein Teil von Lilys Schutzzauber. Als weniger als ein Geist führt er eine Existenz, die diesen Namen nicht verdient und doch gilt seine einzige Sorge dem Jungen. Was sonst macht Ihrer Meinung nach einen Schutzgeist aus?"

„Das glauben Sie wirklich?"

„Hat er bei ihnen einen anderen Eindruck erweckt?"

Severus dachte daran, wie entschieden Tom Harry vereidigt hatte, wie sanft er mit dem Jungen umgegangen war. „Nein, das hat er nicht", gab er zu.

„Wenigen wäre es gegeben, auf diese Weise zu existieren, Severus. Letztendlich wollen wir alle auf die eine oder andere Weise gesehen werden. Tom war zufrieden damit, nur für Harry zu existieren. Und erst als der Junge in Gefahr war, wurde er für einen Moment Teil dieser Welt. Ich kann mir keine höhere Selbstaufgabe, kein größeres Opfer vorstellen. Und doch trägt er es mit Leichtigkeit."

„Sie tun so, als hätte er eine Wahl in dieser Angelegenheit."

„Oh, aber das hatte er. Er hatte sämtliche von Harrys Magie zur Verfügung. Wie leicht wäre es, sie zu missbrauchen? Oder sie nur ein wenig für seine Zwecke zu nutzen? Wir wissen beide, dass das Leben nicht gerecht ist, Severus. Aber diese Ungerechtigkeit trägt nicht jeder auf gleiche Weise. Und ich glaube, dass Tom sie trägt, wie Lily sie getragen hätte."

Severus spürte, wie in ihm eine nie verheilte Wunde erneut zu bluten begann. „Hören Sie auf mit diesen Unterstellungen. Sie haben kein Recht-"

Dumbledore hob die Hand und Snape verstummte. „Er trägt sie mit Liebe für Harry. Und dem stillen Glück, trotz allem die Möglichkeit zu haben, das Kind, das er liebt, aufwachsen zu sehen."

Für einen Moment herrschte Schweigen. Nur die Uhr an der Wand durchbrach die Stille.

„Ich möchte, dass Sie jetzt gehen", sagte Snape.

„Natürlich", sagte Dumbledore sanft. Er erhob sich und schritt zum Kamin. „Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht, Severus. Und ich wünsche wirklich, dass sich die Ereignisse dieser Nacht zum Guten wenden. Auch für Sie."

Snape schwieg und wandte den Blick ab.

Dumbledore warf eine Prise Flohpulver ins Feuer und seine Silhouette wurde von dem Aufflammen der grünen Flammen erhellt. Dann war er verschwunden und Snape vergrub seinen Kopf in den Händen.


Harry Potter und das Monster unter der TreppeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt