Kapitel 8: Freia

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Vorsichtig sah Freia sich um. An dem Haus direkt links von ihr führte eine der Leitern in schwindelerregender Höhe. Vorsichtig sah sie sich um. Ob es wohl gestattet war, einfach hinauf zu steigen? Niemand schien sie zu beachten, als sie nach dem rauen Holz griff und so zog sie sich Sprosse um Sprosse nach oben. Bereits ab der Hälfte ging ihr die Puste aus und ihr wurde etwas mulmig im Magen, war das Gebäude doch etwa fünfundvierzig Fuß hoch. Nur nicht runter sehen... entschlossen starrte Freia die Außenwand an und wagte es nicht, die Augen von dem grauen Stein zu lösen.

Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, ehe sie oben ankam und ihre Beine zitterten ob der Höhe. Vorsichtig lugte sie über den Rand und zog sich hastig wieder zurück. Verdammt, ist das hoch! Dann sah sie sich um.

Die Himmelstadt war tatsächlich eine eigenständige Stadt. Unzählige Brücken führten von einem Dach zum nächsten. So weit oben im Norden schneite es beinahe niemals und die meisten Häuser verfügten über ein Flachdach. An hölzernen Pfählen waren in regelmäßigen Abständen Lampion ähnliche Laternen angebracht und tauchten die Stadt in ein rötliches Licht. Freia sah Händler, die es irgendwie geschafft hatten, ihre Stände auf eines der Dächer zu befördern. Grell bunte Zelte reihten sich aneinander, manche hatten ihre Klappen weit aufgeschlagen und gaben den Blick ins Innere frei. Sie kam an allerhand Gesindel vorbei, einige Wahrsager saßen in ihren mit Sternen verzierten Zelten und starrten düster in ihre billigen Glaskugeln. Ein Mann saß für Freias Geschmack etwas zu nahe am Rande des Daches und schrie alle an, die zu nahe an ihm vorbei kamen und prophezeite den Untergang der Monarchie von Eryndor durch die Hand einer machtgierigen Frau.

Selbst hier oben lassen sich Frauen offenbar gut verkaufen, überlegte Freia, als sie an einem besonders prächtigen Baldachin vorbeikam, vor dem eine junge Frau mit einem sehr einladenden Dekolleté ihre Kolleginnen im Inneren anpries. Irgendwie widerte sie die Erinnerung an ihre Vergangenheit an und sie ging schnell weiter.

Freia lernte schnell, dass es auf den Dächern von Solhaven beinahe alles gab. Trunken vor Aufregung schlendern sie zwischen den Zelten hindurch, von denen manche offenbar bewohnt waren. Ihr Herz schien von den Eindrücken überzulaufen und sie fühlte sich, als hätte sie zu viel Honigwein getrunken. All ihre Müdigkeit war wie weggewischt und ihre Beine zitterten diesmal vor Energie. An einem Stand, an dem Kirschkuchen feilgeboten wurden, blieb sie stehen. Ihr Bauch knurrte schon mächtig und die süßen Kuchen rochen verführerisch. Der Mann hinter dem Stand war sehr geschäftig und es gelang ihr, in einem Moment er Unaufmerksamkeit, eines der klebrigen Gebäckstücke zu stibitzen. Hastig lief sie davon, bevor der Verkäufer den Verlust bemerken konnte. An einem etwas dunkleren und nicht ganz so vollen Dach blieb sie schließlich stehen und setzte sich in sicherem Abstand an den Rand. Genüsslich aß sie ihre Beute und leckte den Sirup von ihren Finger. Sie wünschte, sie hätte noch ein Stück ergattern können. Dann lehnte sie sich etwas zurück, mit hinter ihrem Rücken durchgedrückten Armen hielt sie ihren Rücken aufrecht und ließ den Blick über die inzwischen in Dunkelheit getauchte untere Stadt von Solhaven schweifen. Kaum ein Licht brannte in den Gassen, das ganze Leben der Nacht fand auf den windigen Giebeln statt. Sie konnte ein gutes Stück entfernt das Meer glitzern sehen und atmete seinen Geruch tief ein. Einen Moment lang schloss sie wohlig die Augen. Sie fühlte sich beinahe daheim. Dann sah sie wieder auf die Straßen hinab. Sie meinte, den großen Hafen von Solhaven ein paar Straßen weiter zu erkennen und rappelte sich auf. Den wollte sie sich aus der Nähe anschauen. Umständlich kletterte sie eine Leiter hinab und blieb unten angekommen ein paar Minuten mit klopfendem Herzen stehen. Die Höhe erschien ihr in der Dunkelheit noch beängstigender. Als sich ihr Puls weitestgehend wieder beruhigt hatte, sah sie sich um. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren und machte sich dann auf den Weg.

Entspannt schlendern sie durch die Gassen. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so sicher gefühlt, sie hatte was gegessen und sie war so weit im Norden, dass die auch die Nächte mild und schön waren. Ein leichter Wind wehte ihr entgegen, zerzauste ihr die Haare und erfrischte sie angenehm. Ein beißender Fischgeruch stieg ihr in die Nase und sie verzog unwillkürlich das Gesicht. Fisch war ihr nie sonderlich sympathisch gewesen. Als sie um eine Ecke bog, fand sie sich auf einem verlassenen Markt wieder. Die Stadt endete so abrupt vor ihr, dass Freia kurz innehielt, um die Szenerie zu erfassen. Der Hafen lag in einem gleichmäßigen Halbkreis vor ihr, der wie eine Sichel in die Stadt schnitt. Dieser Bogen reichte bis an die Stadtmauern und öffnete Solhaven zum Meer hin, dessen Wellen leise gegen die Mauern plätscherten. Vorsichtig überquerte Freia den stillen Markt, der sich bis zum Meer ausbreitete, und trat an den Rand. Der Unterschied zwischen der gepflasterten Straße und dem Wasser betrug etwa sechs Fuß, doch in der Dunkelheit schien es, als würde sie in eine bodenlose Tiefe fallen, wenn sie hinabspringen würde. Zu beiden Seiten erkannte sie mächtige, hölzerne Stege, die wie Lichtstrahlen die Schwärze durchbrachen, und sie war sicher, dass noch weitere sich in den Schatten der Nacht verbargen. Vor ihr schaukelte ein gewaltiges Schiff sanft auf den Wellen und zog sofort ihren Blick auf sich. Es war ein eindrucksvolles Segelschiff, dessen Großmast sich weit in den Himmel reckte. Freia musste den Kopf weit in den Nacken legen, um das eingerollte Großroyalsegel zu erspähen, das hoch oben an der Mastspitze hing. Der Dreimaster war über hundert Fuß lang, und sein Klüverbaum ragte noch mindestens zwanzig Fuß weiter in die Dunkelheit hinein. Am Bug prangte eine vergoldete Gallionsfigur: Eine wunderschöne Frau, deren lange Haare in Wellen über ihren Körper flossen und ihre Nacktheit verbargen.

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