Kapitel 1

12 2 1
                                    

Die Sonne stand steil am Himmel und verlieh den wenigen Bäumen um uns herum einen goldenen Kranz. Die Luft war frisch, aber nicht kalt und das Gipfelkreuz thronte direkt vor unserer Nase. Ich keuchte und schnappte nach Luft, doch mein Bruder grinste lässig und drehte sich einmal um sich selbst: „Ich weiß gar nicht wie oft wir schon hier oben waren, aber die Aussicht ist jedes Mal aufs Neue umwerfend! Ich kann sie ja immer sehr lange genießen, bis du dann auch endlich oben angekommen bist, Caro!" Er warf mir einen schelmischen Blick zu und verdrehte die Augen, worauf ich ihm die Zunge herausstreckte. Ich war zwar schon achtzehn Jahre alt, aber ich habe beschlossen, dass man nie zu alt ist, um seinem Bruder die Zunge zu zeigen. „Wenn es nach mir ginge, könnte man die Aussicht auch ruhig schon während dem Hochwandern genießen", meinte ich während ich meine Wasserflasche aufschraubte, um einen großen Schluck zu trinken.

Mein Bruder Daniel und ich sind schon etliche Male gemeinsam auf unseren Hausberg gestiegen, im Winter mit Schneeschuhen und Ski und im Sommer mit Bikini im Rucksack, um einmal in den eiskalten Bergsee zu hüpfen. Für mich ist der Anblick des Gipfelkreuzes jedes Mal wie nach Hause kommen. Ich ließ meinen Blick schweifen und spürte die Sonne auf den Wangen. Hier oben bin ich immer ein Stückchen glücklicher als ich es unten im Tal bin. Nachdenklich schaute ich Daniel an: Er saß auf einem Stein und blinzelte in die Sonne. In letzter Zeit hatte ich das Gefühl, dass sich zwischen mir und meinem Bruder etwas verändert hatte. Manchmal schlich sich ein trüber Ausdruck über sein Gesicht, in Momenten, in denen er glaubte, dass niemand hinsah. Auch jetzt. Seine Schultern waren leicht angespannt und seine Augen wanderten von einem Punkt zum nächsten. Plötzlich stand er auf und schulterte seinen Rucksack. „Wollen wir wieder runter? Ich muss noch zum Großhändler und mich um die neuen Melkmaschinen kümmern. Papa kann das nicht übernehmen, er hat einen Termin in der Klinik.", sagte er und seine Schultern verspannten sich noch mehr.

Ich schulterte ebenfalls meinen Rucksack und schaute ihn besorgt an: „Klar, ich hole Papa nach dem Arzttermin ab und dann machen wir Lasagne! Morgen beginnt die Schule zum letzten Mal für mich, das muss gefeiert werden. Emma und Nils kommen vorbei, und ich wünsche mir, dass du auch dabei bist und dir einen freien Abend gönnst!" Ich hoffte, dass ihn unsere berühmt-berüchtigte Lasagne ein wenig aufmuntern würde. Daniel nickte:" Ich bin dabei! Schön, dass Emma wieder da ist" Schweigend wanderten wir wieder hinunter, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken.

Emma war meine beste Freundin. Uns beide, Carola und Emma, gab es lange Zeit nur im Doppelpack. Bis vor drei Jahren Nils dazugestoßen ist und ein Trio aus uns gemacht hat. Wir gingen in die gleiche Klasse und würden dieses Schuljahr gemeinsam unsere Abschlussprüfungen machen. Emma hatte das letzte Schulhalbjahr in den USA verbracht und mich und Nils allein in unserem kleinen, mehr oder weniger langweiligen Dörfchen in den österreichischen Alpen zurückgelassen. Morgen würde unser letztes Schuljahr beginnen und ich war heilfroh Emma wieder an meiner Seite zu haben.

Mittlerweile waren wir dem Dorf schon ein gutes Stück näher als dem Gipfelkreuz. Die Sonne zeigte sich für einen Septembertag von seiner besten Seite, als versuchte sie den Herbst so lange wie möglich hinauszuzögern. Mir rann der Schweiß von der Stirn und meine braunen Locken verklebten sich unangenehm im Nacken. Daniel wanderte mit einem verbissenen Gesichtsausdruck und einer Entschlossenheit, die man als Außenstehender schon fast als Wut bezeichnen könnte neben mir. Auch er schwitzte und blieb schließlich stehen, um einen Schluck Wasser zu trinken. Ich nutzte den Moment, um endlich herauszufinden, was ihn so bedrückte. „Daniel, wir sind heute in Rekordzeit rauf und runtergelaufen, warum bist du so wütend? Du bist doch wütend auf etwas oder jemanden oder nicht?" Daniel schaute mich nicht an, sondern an mir vorbei in die Ferne und schwieg.
Schließlich seufzte er und holte tief Luft: „Ich möchte den Hof unserer Eltern nicht übernehmen. Ich möchte am liebsten gar nichts mit dem Betrieb und den Tieren zu tun haben. Morgen beginnt dein letztes Schuljahr und Mama und Papa freuen sich schon richtig darauf, dass du dann studieren wirst. Deine Abschlussprüfungen nächstes Frühjahr sollen unbedingt gut ausfallen, damit dir dann alle Wege auf der Universität offenstehen. Davon reden sie doch die ganze Zeit! Aber ob ich den Hof überhaupt weiterführen möchte, haben sie mich nie gefragt. Dass ich vielleicht auch studieren möchte, daran hat niemand gedacht. Und ich habe mich nie getraut etwas zu sagen. Und jetzt? Papa mit seinen Herzprobleme packt den Betrieb am Hof nicht mehr allein. Jetzt von hier weg zu gehen kann ich ihm nicht antun!"

Daniel kickte traurig gegen einen Stein. Ich war überrascht. Mit so einem Geständnis hatte ich jetzt nicht gerechnet und gleichzeitig war ich froh, dass mein Bruder sich mir geöffnet hat. Ich legte Daniel eine Hand auf die Schulter und drückte sie fest: „Du solltest unbedingt mit Papa darüber reden, wie du dich fühlst! Du arbeitest jetzt seit einem Jahr im Betrieb und kümmerst dich mittlerweile um fast alles. Niemand konnte ahnen, dass du dich so fühlst. Du hast dich selbstlos in die Arbeit gestürzt, als es Papa schlecht ging. Ich bin mir sicher, dass es eine Lösung gibt! Könnt ihr nicht jemanden einstellen, der deine Arbeit übernimmt?" Daniel lachte, „Diese Person muss man aber erstmal finden! Und dann auch noch einarbeiten. Das wird dauern. Aber es stimmt, ich trage das schon viel zu lange mit mir herum, ich werde morgen Abend mit Papa sprechen!"
Er schaute mich mit seinen braunen Augen an und mir wurde schwer ums Herz. Schnell legte ich meine Arme um meinen Bruder und drückte ihn fest. Es tat mir unfassbar leid, dass er in einer Situation gefangen war, die ihn unglücklich machte.

„Lass uns weitergehen, ich muss noch die Lasagne für heute Abend vorbereiten! Ich bin mir sicher Emma und Nils werden dich ein wenig ablenken. Vor allem Emma!"
Ich grinste meinen Bruder an und deutete mit meinen Lippen einen Kussmund an. „Stopp, ich bin drei Jahre älter als Emma, sie ist ja quasi noch ein Baby! So wie du übrigens!" lachte Daniel und schubste mich leicht. „Emma ist achtzehn! Und ich seit einiger Zeit auch, also können wir tun und lassen was wir wollen!" antwortete ich, „Und mit wem wir wollen!" ,fügte ich schelmisch hinzu. Daniel beschleunigte seine Schritte und rief lachend: „Darüber rede ich nicht mit dir! Und jetzt beeil dich lieber, sonst kannst du hier übernachten!" ich grinste nur und folgte ihm den Wanderweg entlang nach Hause.

*****************************************
Hey ihr!

Die Idee zu dieser Geschichte hatte ich während meines letzten Schuljahres, bin aber jetzt ersr dazugekommen sie wirklich niederzuschreiben. Ich freue mich über jede Art von Feedback! Viel Spaß. Ich bin gespannt wie sich das Ganze noch entwickeln wird.

xxx

Eure bittersweetsoey

Avalanches: Von Liebe und LawinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt