Kapitel 5

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Pünktlich um drei Uhr standen Emma und Nils am nächsten Tag vor meiner Haustür. Sie hatten beide ihre Wanderschuhe und Windjacken an. Emma hatte außerdem noch ihren Klettergurt umgeschnallt und hielt einen zweiten für Nils in der Hand. Ich war ebenfalls schon fertig. Ich trug meine dunkelblaue Windjacke und hatte meine Locken zu zwei seitlichen Zöpfen geflochten, damit mir meine Haare nicht in die Quere kamen. Daniel stand hinter mir an der geöffneten Tür im Flur und hatte auch seine Wanderschuhe an.

„Oh Daniel, kommst du mit?", fragte Emma verwundert und ich bildete mir ein, dass ihre Wangen leicht gerötet waren. „Ja, als mir Caro erzählt hat, dass Nils auch dabei ist, dachte ich, dass er vielleicht ein bisschen Unterstützung gebrauchen könnte", schmunzelte Daniel und schaute Emma an. „Okay, Leute! Können wir dann los? Nils, du bist dir wirklich sicher? Wir haben auch einen leichten Klettersteig eingeplant, willst du wirklich mitkommen?", unterbrach ich sie und warf Nils einen prüfenden Blick zu. „Klar, jetzt mache ich keinen Rückzieher mehr! Höhenangst ist ab heute ein Fremdwort für mich!", antwortete er und lachte. Dass sein Lachen etwas gezwungen klang, ignorierte ich. Man muss ihm ja schließlich einmal eine Chance geben. Das war genau das, was Nils wollte. Eine Chance. Daniel und ich griffen nach unseren Rucksäcken und wir brachen auf.

Emma und ich gingen voran, Nils und Daniel in leichtem Abstand hinter uns. Mittlerweile waren wir schon eine halbe Stunde unterwegs und würden in wenigen Minuten den Teil des Weges erreichen, an dem man ein wenig klettern musste.

„Bist du bereit?", rief ich Nils über meine Schulter zu. „Ich war noch nie bereiter als jetzt. Ich nutze diese Chance Caro!", kam prompt von ihm zurück. Emma grinste mich an. 

Ich habe ihr am Weg mittlerweile erzählt, was zwischen Nils und mir passiert ist und sie hat es zu meiner Erleichterung mit Humor aufgenommen. „Da lässt man euch mal ein paar Monate allein und schon zieht ihr euch gegenseitig aus.", lachte sie nur. Die Details musste ich dann doch weglassen, waren doch Nils und auch mein Bruder die ganze Zeit direkt hinter uns. „Jetzt verstehe ich auch, warum Nils heute unbedingt mitkommen wollte. Wegen dir!", fügte Emma noch hinzu und sie warf mir einen fragenden Blick zu. „Wie geht es denn jetzt weiter zwischen euch?", wollte sie schließlich wissen.

„Ich weiß es nicht. Für mich war es eine einmalige Sache und ich dachte für ihn auch. Aber plötzlich ist alles so anders. Er möchte, dass wir mehr sind als Freunde. Aber obwohl ich Nils nicht mehr mit den gleichen Augen sehe wie davor, ist unsere Beziehung zueinander für mich definitiv nur freundschaftlich.". erklärte ich Emma und seufzte einmal. „Es ist ein schönes Gefühl zu wissen, dass wir füreinander da sind, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Aber das ist nicht Liebe. Dafür fehlt mir irgendetwas. Ich hoffe nur, dass Nils das verstehen wird", fuhr ich fort. „Ihr solltet in Ruhe miteinander reden", schlug Emma vor, „sonst macht er sich noch länger falsche Hoffnungen und was das dann für eure Freundschaft bedeutet ist klar.", meinte Emma. Ich seufzte wieder. Hinter uns hörte ich Nils und Daniel herumalbern und lachen und war froh, zumindest kurz mit Emma darüber gesprochen zu haben.

Wenige Minuten später erreichten wir den Klettersteig. Auf unserer linken Seite ging es steil bergab, während rechts ein Geröllfeld und der Beginn der Klettertour lag. Jeder nahm sich einen Karabiner und hängte sich in das schon auf den Felsen montierte Drahtseil an, bevor wir zu klettern begannen. „jetzt geht es noch ein Stück gemütlich weiter, aber weiter oben müssen wir dann aufpassen, da wird es sehr steil!", ermahnte Daniel uns. „Es hat heute Morgen ziemliche geregnet, passt auf, dass ihr nicht abrutscht!" Nils war seit er am Drahtseil hin kreidebleich im Gesicht und sah so aus, als müsste er sich gleich übergeben. Wir gingen der Reihe nach: Als erstes Daniel, dann Emma, Nils und am Schluss ich. „Du schaffst das Nils!", rief ich ihm zu, „Ab heute keine Höhenangst mehr, schon vergessen?". Er keuchte nur. Kalter Wind blies und ich merkte plötzlich, dass die Felsen wirklich sehr nass und rutschig waren, je weiter wir vorankamen. Ich konzentrierte mich nurmehr auf meinen nächsten Schritt. Mittlerweile mussten wir die Hände zur Hilfe nehmen und uns an den Steinen hochziehen.

 „Mist, ich hab mich geschnitten!" rief plötzlich Emma und fuchtelte mit einer Hand in der Luft herum. „Blutet es stark?", rief ich fragend zurück. „Nein, geht schon, aber pass auf Nils, die Stelle hier ist wirklich gefährlich!", antwortete sie. „Na super, das war nicht mein hellster Moment, als ich beschlossen habe eine verdammten Klettertour mitzumachen.", jammerte Nils. „Wer sowas freiwillig machte, muss ja fast lebensmüde sein", murmelte er vor sich hin. „Konzentrier dich auf deine Schritte!", ermahnte ich ihn.

Und genau in dem Moment geschah es. An der Stelle, an der Emma ausrutschte und sich am harten Felsen geschnitten hatte, verlor auch Nils den Halt und rutschte ab. Er schrie auf und blieb mit seinem Fuß komisch verkeilt zwischen zwei Felsbrocken stecken. Er war totenblass und sein Gesicht vor Schmerz verzerrt. Ich war wie geschockt und wusste nicht was ich tun sollte. Emma war zu weit weg, um Nils zu helfen und allein konnte ich ihn nicht aus dieser misslichen Lage befreien. Daniel, der mittlerweile oben angekommen war, wusste, was zu tun war und alarmierte die Bergrettung.

„Ah, Caro, ich glaube mein Fuß ist gebrochen. Ich bin 2000 Meter über dem Meer und mein Fuß ist gebrochen – Oh mein Gott, ich glaub' ich bekomm eine Panikattacke.", weinte Nils und atmete immer schneller. „Daniel, alarmiert die Bergrettung! Die sind in ein paar Minuten da.", versuchte ich ihn zu beruhigen. „Atme tief ein und aus!" Ich versuchte es ihm vorzumachen und hoffte, dass es auch ich beruhigen würde. Nils wurde zwar ruhiger, aber man sah ihm an, dass die Schmerzen stärker geworden waren. Endlich konnte man in der Ferne den Hubschrauber der Bergrettung hören. Nils zitterte mittlerweile vor Schmerz und biss die Zähne fest aufeinander. Ich sah ihm an, dass er am liebsten weinen würde, sich aber wegen mir zusammenriss. „Du brauchst nicht so zu tun, als wärst du stärker als du bist, Nils", schrie ich, um den Lärm der Bergrettung zu übertönen. „Ich mag dich so wie du bist! Mach im Helikopter einfach die Augen zu und erst nachdem ihr gelandet seid wieder auf!", versuchte ich ihm Mut zu machen. „Ich steig da auf keinen Fall allein ein! Du kommst doch mit oder?", antwortet Nils verzweifelt. „Ähm." Ich war überrascht. „Ja, ich kann mitfliegen!", brachte ich schließlich heraus und drückte seine Hand. 

Avalanches: Von Liebe und LawinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt